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Den Glauben in Textilien fassen

Auf dem Schreibtisch von Julia Matveyeva liegt eine in Birkenrinde geritzte Zeichnung. Hoch filigran ist auch die Ikonenstickerei, an der die ukrainische Künstlerin in Spiegelberg (Rems-Murr-Kreis) gerade arbeitet. In jeden noch zu findenden Schlupfwinkel des vollgepackten kleinen Autos, mit dem sie mit den beiden jüngsten Töchtern Ania (12) und Agnia (15) kurz nach Kriegsbeginn aus Charkiw in der Ukraine floh, verteilten sie und ihr Mann Andrij die dafür benötigte indische Seide.

Sechs Tage ging es in der Februarkälte des Jahres 2022 in einer abenteuerlichen Fahrt durch die Ukraine – die großen Städte hätten umfahren werden müssen, das Benzin sei rationiert gewesen, zwei Reifen seien unterwegs geplatzt, erzählt die fünffache Mutter. 80 Kilometer vor der Grenze, in Ternopil, kam das Schwerste: Als Mann unter 60 musste sich Andrij für die Armee registrieren lassen und im Land bleiben – wenn auch bisher nicht als Soldat. Der Geologieprofessor hält weiter Vorlesungen im Online-Format und führt Forschungsarbeiten in der Westukraine für den Wiederaufbau des Landes durch.

In Rumänien alleine mit den jüngsten Kindern – die drei erwachsenen Kinder leben mittlerweile in verschiedenen Ländern – lösten sich bei Julia Matveyeva endlich die Tränen. Ein halbes Jahr lebte die auf byzantinische Kunst spezialisierte Dozentin in Griechenland, danach schlüpfte sie bei ihrer ehemaligen Studentin Vera Boschmann und deren Familie in Oppenweiler unter, bis sie in Spiegelberg eine eigene Wohnung fand.

Kreativität ist der 50-Jährigen in die Wiege gelegt. „Seit früher Kindheit habe ich gezeichnet – auf Wänden, Betten, Decken, Händen und Zähnen – meine Eltern haben immer vergessen, mir Papier zu geben“, schmunzelt die Wissenschaftlerin. An der staatlichen Kunstschule am Rande der Millionenstadt Charkiw, Abteilung Theater und dekorative Kunst, genoss sie große Experimentierfreiheit beim Gestalten von Skulpturen, Bühnenbildern, Plakaten, Kostümen oder Requisiten.

Das änderte sich, als sie ihr Studium in der Staatlichen Akademie für Design und Kunst im Zentrum der zweitgrößten ukrainischen Stadt fortsetzte. Das verschulte Studium mit vielen Aufgaben und Vorgaben führte sie in eine kreative Krise. „Ich konnte nicht mit ganzer Seele arbeiten. Mir fehlte die Brücke zwischen dem echten Leben und den akademischen Aufgaben“, sagt Julia Matveyeva auf Deutsch.

Zweierlei half ihr, bei ihrer inneren Suche zum Ziel zu kommen. Sie heiratete und bekam Zwillinge, was sie von der Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen befreite. „Durch die Kinder habe ich auch in meiner kreativen Arbeit mehr Klarheit bekommen, ein Gefühl von Ganzheit und Harmonie“, so die Künstlerin. Mit Anfang zwanzig habe sie, die zwar getauft war, aber als Kind sowjetisch geprägter Eltern kaum Berührung mit Kirche und Glauben gehabt habe, mehrfach den Ruf von Christus gespürt: „Komm zu mir und alles wird gut“, so Matveyeva. Neben Offenbarungen wie im Traum habe sie auch ein befreundeter vielseitiger Künstler, der sich mit Ikonografie befasste, zu ihrem neuen Weg ermutigt.

Klopfenden Herzens ging die Studentin zu der strengen Dekanin, um ein Anliegen zu äußern, das auf staatlichen Akademien verpönt war. Zu Julias Überraschung sagte diese „ja“. So durfte Julia Matveyeva 1999 als erste Studentin für ihre Diplomarbeit eine komplette Altarabdeckung mit liturgischen Tüchern anfertigen – ein Ansporn für andere Studierende, ebenfalls die Schönheit und die Botschaften kirchlicher Textilien zu entdecken. „Liturgische Textilien“ wurde zu einem eigenen Fach an der Kunstakademie, das Matveyeva zwölf Jahre lang neben anderen Fächern unterrichtete. 2008 schrieb sie ihre Dissertation zum Thema: „Die byzantinische Tradition in der Ikonographie von Liturgischen Textilien des Spätmittelalters“.

Im Zentrum aller Kunst und ihres bewegten Lebens steht für Julia Matveyeva Gott: „Er weiß besser, was du brauchst. Du brauchst nur zu hören. Und du kannst auch fragen. Und das ist so gut!“ (1121/26.05.2024)