Werden manche Formen von Antisemitismus unterschätzt? Altbundespräsident Gauck hat eine Debatte eröffnet – an einem Wochenende, an dem auch der NS-Pogrome von 1938 gedacht wurde.
Äußerungen von Altbundespräsident Joachim Gauck haben eine Debatte über Antisemitismus von links und aus dem arabischen Raum ausgelöst. Zugleich wurde am Wochenende vielerorts an die November-Pogrome der Nationalsozialisten 1938 erinnert, bei denen Einrichtungen von Jüdinnen und Juden im gesamten damaligen Deutschen Reich zerstört wurden. Bei einer Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue betonte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: “Wir müssen Antisemitismus bekämpfen, egal, aus welcher Richtung er kommt.”
Auch Steinmeiers Amtsvorgänger Gauck hatte in einem am Samstag veröffentlichten Interview des “Tagesspiegel” zu Wachsamkeit gemahnt. Der Altbundespräsident fügte hinzu: “Wir haben seit Jahrzehnten eingeübte Abwehrreflexe gegenüber Rechts – das ist gut. Was lange vernachlässigt wurde, ist die Beschäftigung mit Antisemitismus, etwa aus dem arabischen Raum, wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen.” Manche hätten auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen.
Der Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, nannte die hohe Zahl antisemitischer Straftaten im “Tagesspiegel” unerträglich. Er könne allerdings nicht erkennen, dass über linken Antisemitismus oder Hass aus dem arabischen Raum weniger gesprochen werde. Hass gegen Juden sei in Deutschland vor allem “ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft”, so van Aken. “Insofern steht es allen, sowohl uns, als auch ehemaligen Bundespräsidenten, gut zu Gesicht, den Antisemitismus nicht anderen zuzuschieben, sondern im eigenen Umfeld und im eigenen Dorf kritisch und wachsam zu sein.”
Zentralratspräsident Josef Schuster dagegen teilte die Ansicht von Gauck. Seit dem Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 habe islamistisch motivierter Antisemitismus explosionsartig zugenommen, sagte Schuster dem “Tagesspiegel”. “Dieser Antisemitismus bildet eine unheilvolle Allianz mit linkem Antisemitismus, der sich ins Gewand des sogenannten Antizionismus kleidet.”
Israel Botschafter Ron Prosor warnte in einem Interview der Zeitungen der Funke-Mediengruppe vor allem vor dem Antisemitismus von links. In Europa zeige sich das Phänomen insbesondere an Hochschulen und Theatern. “Man gibt sich gebildet, moralisch und politisch korrekt”, so Prosor. “Aber die rote Linie dessen, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, ist längst überschritten. Tag für Tag wird Israel dämonisiert und delegitimiert, die Folgen sind für alle Juden spürbar.”
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner forderte im “Tagesspiegel” ein entschlossenes Eintreten gegen jede Form von Antisemitismus, egal woher er komme. “Nie darf aber der Absender darüber entscheiden, wie wir darauf reagieren – es darf hier keine Zurückhaltung, keinen kulturellen Rabatt und erst recht keine Relativierung oder gar Verständnis geben.”
Ähnlich äußerten sich Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU). Die Erinnerung an die Pogrome sei eine Mahnung, wachsam zu bleiben, Haltung zu zeigen und sich mit aller Kraft gegen Antisemitismus und jede Form von Menschenfeindlichkeit zu stellen, sagte Prien bei einer Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinde in Amsterdam.
Bundespräsident Steinmeier beklagte, dass Antisemitismus auch Jahrzehnte nach den NS-Verbrechen in Deutschland einen Nährboden finde. “Er kommt von rechts, von links und aus der Mitte, es gibt ihn unter muslimischen Einwanderern.” Wer immer antisemitische Angriffe verübe, mache sich strafbar, betonte das Staatsoberhaupt. Hier dürfe der Rechtsstaat nicht zurückweichen.