Barfuß auf lange Nägel? Tut das nicht weh? Julius steht vor einem Nagelbrett und runzelt die Stirn. Zirkuspädagoge Erik Werner hält ihn am Arm, während Julius vorsichtig tastend auf das Brett mit den 15 Zentimeter langen Nägeln steigt. „Ihr dürft keine schnellen Bewegungen machen, also nicht draufspringen“, erklärt Erik Werner. Auf dem Brett stehend strahlt Julius, der mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) zur Welt kam. Sein Ziel: Im nächsten Jahr in der Manege des „Circus Roncalli“ zu stehen.
Die anderen Teilnehmer klatschen und jubeln dem 13-Jährigen zu. „Das würde ich mich sonst nie trauen“, sagt Michael, der als nächster auf das Nagelbrett steigt. „Hier ist das aber etwas anderes.“ Von Montag bis Mittwoch hat sich die Sporthalle der Bethel-Schule Mamre Patmos in ein Trainingslager für kleine und große Artisten verwandelt. Ein Roncalli-Team arbeitet in einem Workshop mit rund 20 Menschen mit Behinderungen aus den Einrichtungen Bethels.
Im Frühjahr 2017 gibt es die Jubiläums-Show
Zuvor gab es weitere Workshops an den Bethel-Standorten: in Hannover trainierten die Teilnehmer Kunststücke mit Leitern. In Berlin/Lobetal wurde mit großen Seifenblasen gezaubert. Und in Dortmund wurden die Bethel-Teilnehmer zu Clowns. Im Frühjahr 2017 ist es dann soweit: Dann werden die Teilnehmer aller vier Workshops gemeinsam mit Profi-Artisten die Stars bei einer großen Show des „Circus Roncalli“ mit rund 1500 Zuschauern sein. Ergänzt wird die Show von Darbietungen der Roncalli-Artisten und prominenten Bethel-Botschaftern.
Der Spielort wird in den nächsten Wochen festgelegt, wenn der Roncalli-Tourplan feststeht. Die Aufführung ist Teil des Jubiläumsprogramms, mit dem die von Bodelschwinghschen Stiftungen im nächsten Jahr 150 Jahre Bethel feiern. Dazu gehören Festveranstaltungen, Fernsehgottesdienste aus Bethel und eine Foto-Ausstellung.
Behinderte Menschen als Clowns oder Artisten
„Uns ist wichtig, dass das Jubiläum besondere Erlebnisse schafft“, erläutert Johann Vollmer, der bei Bethel mit der Organisation der Feierlichkeiten befasst ist. In dem Zirkusprojekt werden behinderte Menschen aus Bethel-Einrichtungen unter Hilfestellung des Roncalli-Teams einen Tag den Zirkus übernehmen. Das reicht vom Kartenabreißer bis zum Clown in der Manege.
Damit wird die Vision Bethels praktisch erlebbar: dass behinderte Menschen gleichberechtigt Anteil an der Gemeinschaft und dem öffentlichen Leben haben. An dem Projekt sind deshalb auch fast alle Bereiche Bethels beteiligt: Unter den Teilnehmern sind Menschen mit Behinderungen oder mit Epilepsie. Andere kommen zudem aus der Sucht- oder Jugendhilfe.
„Wir sind mit der Idee auf die Roncalli-Leute zugegangen“, erzählt Vollmer. Der Zirkus sei von einer gemeinsamen Vorstellung von Anfang an begeistert gewesen. „Circus Roncalli“ und Bethel – das passe gut zusammen, weil bei Roncalli-Darbietungen Poetik und Zauberei im Vordergrund stünden.
Die 16-jährige Thu-Huyen Nguyen, die im Rollstuhl sitzt, jongliert mit jeder Hand an einer Stange einen Teller. Sie strahlt. „Du bist Spitze!“, wird sie von der Leiterin des Workshops, Jarry Seedorf-Harth, gelobt. „Heute morgen konntest du nicht mal einen Teller jonglieren, jetzt sind es schon zwei.“
Für Seedorf-Harth, die schon mit vielen Gruppen gearbeitet hat, ist das Bethel-Projekt etwas Besonderes. „Alle sind mit Feuereifer dabei“, ist die Zirkuspädagogin begeistert. „Die Teilnehmer hier sind so herzlich, ehrlich, direkt und offen.“ Thu-Huyen habe ihr gestern ohne Worte klargemacht, dass sie auf ihren Schoß wolle, erzählt sie. „Das war ein schöner Moment, wo die Zeit stillstand.“
Mehr Aufmerksamkeit als in der Schule
Die Workshop-Teilnehmer üben drei Tage lang von morgens bis nachmittags. „Eine so große Aufmerksamkeit gibt es im normalen Schulunterricht nicht“, erzählt schmunzelnd Wolfgang Spode, der als Lehrer der Mamre-Patmos-Schule auch für Theater- und Zirkusprojekte zuständig ist.
Die gemeinsame Arbeit stärke auch das Bewusstsein als Gruppe: Bei einer menschlichen Pyramide zum Beispiel erlebten die Kinder und Jugendlichen, dass keiner einfach weggehen könne, ohne dass alles zusammenbreche. Durch die Zirkusarbeit würden auch die motorischen Fähigkeiten weiterentwickelt.
„Hier spielt das Alter keine Rolle, die Art der Behinderung spielt keine Rolle“, sagt Spode. Auch gebe es keine Noten. Hier wüssten alle, dass von ihnen nichts verlangt werde, was sie nicht könnten. „Jeder macht nur das, was er kann“, erklärt der Pädagoge die Begeisterung. Am letzten Tag der Workshops fließen auf beiden Seiten Tränen, erzählt Leiterin Seedorf-Harth. Der Spaß am Zirkus geht aber weiter. Bis zur Aufführung trainieren Bethel-Pädagogen mit den Teilnehmern weiter.
Die Zirkusarbeit steigert das Selbstvertrauen
Manch einer von ihnen hat schon vor der großen Aufführung seinen persönlichen Erfolg: Thomas Lihl, Bewohner einer Betheler Einrichtung in Dortmund, hat beim dortigen Workshop mit großer Begeisterung ausprobiert, ein Clown zu sein. Seitdem ist der mehrfach-behinderte Mann wie verwandelt. Das hätten Betreuer ihm hinterher freudig berichtet, erzählt Zirkustrainer Erik Werner. Vieles, bei dem er vorher Hilfe in Anspruch genommen habe, wolle Lihl jetzt alleine machen. Nach der Zirkusarbeit meistere er mit viel mehr Selbstvertrauen seinen Alltag.