Nach Vorwürfen mangelnder Transparenz bei der Aufklärung eines mutmaßlichen Missbrauchsfalls ist die Theologin Annette Kurschus von ihren Spitzenämtern in der evangelischen Kirche zurückgetreten. Sie gebe sowohl den Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als auch das Amt als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen auf, erklärte Kurschus (60) am Montag in Bielefeld. Spitzenvertreter der evangelischen und katholischen Kirche würdigten und bedauerten den Schritt, auch die Betroffenenvertretung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zollte Kurschus Respekt. Nun müsse die Aufklärung weiter vorangetrieben werden.
Kurschus kritisierte, statt um die von sexualisierter Gewalt Betroffenen und deren Schutz gehe es seit Tagen ausschließlich um ihre Person. „Das muss endlich aufhören.“ Um dieser Aufklärung nicht im Wege zu stehen, bereits erlangte Erfolge nicht zu gefährden und Schaden von ihrer Kirche abzuwenden, ziehe sie diese Konsequenz. In der Sache sei sie mit sich im Reinen, betonte sie. Dieser Schritt falle ihr nicht leicht. Sie habe sich für beide Ämter mit Leidenschaft und Herzblut eingesetzt – und mit „Redlichkeit“, die sie sich von niemandem absprechen lasse.
Hintergrund des Rücktritts sind Missbrauchsvorwürfe gegen einen ehemaligen Kirchenmitarbeiter des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein, der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Kurschus war nach eigenen Angaben mit dem Beschuldigten und seiner Familie eng befreundet. In Siegen war sie ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später als Superintendentin tätig. Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt, geht aber derzeit nicht von einer strafrechtlichen Relevanz der Taten aus, die zum Teil auch verjährt sein könnten.
Kurschus weiß nach eigenen Angaben erst seit diesem Jahr von den Missbrauchsvorwürfen, die „Siegener Zeitung“ hatte dagegen berichtet, sie sei bereits in 90er Jahren informiert worden. In ihrer Erklärung am Montag sagte Kurschus, sie habe seinerzeit allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen. Sie wünschte, sie wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die sie heute alarmieren würden.
Die 60-Jährige steht seit 2012 an der Spitze der westfälischen Kirche, vor zwei Jahren wurde sie zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt. Ende der Woche steht die Synode der westfälischen Landeskirche an, daher habe sie sich jetzt zu diesem Schritt entschieden, sagte sie. Den EKD-Ratsvorsitz übernimmt ab sofort kommissarisch die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die bislang Kurschus’ Stellvertreterin war. Das Präses-Amt in der westfälischen Kirche übernimmt kommissarisch der Theologische Vizepräsident Ulf Schlüter.
Fehrs äußerte Hochachtung für den Kurschus-Rücktritt. Der EKD-Rat müsse den eingeschlagenen Weg bei Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt konsequent weitergehen. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, nannte Kurschus’ Rücktritt folgerichtig. Sie forderte „klare Kriterien für alle Ämter im Umgang mit Missbrauchsfällen in der Vergangenheit“.
Die Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD erklärten, Kurschus’ Entscheidung schütze die Arbeit des Forums vor weiteren Belastungen. Man setze die Arbeit mit großem Vertrauen in die Struktur des Beteiligungsforums in der bestehenden vertrauensvollen Art und Weise fort.
Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, bedauerte den Rücktritt von Kurschus, die er geschätzt habe „als theologische Denkerin mit einer prägenden geistlichen Kraft und mutigen Visionen für ihre Kirche“. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, zollte Kurschus ebenfalls Respekt: „Annette Kurschus hat mit ihrem Rücktritt vom Amt klare Konsequenzen aus einer öffentlichen Debatte um ihre Integrität gezogen.“