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„Das hing vom lieben Gott ab“

Am 26. September 2016 jährt sich der von der UN-Versammlung ausgerufene Internationale Tag für die vollständige Abschaffung von Atomwaffen. Warum am 26. September? Ein Blick zurück, ins gefährlichste Jahr des Kalten Krieges

picture alliance / ZB

Das Jahr 1983. Viele Menschen in Deutschland – hüben und drüben – peinigt die Furcht, dass der Ost-West-Konflikt zu einem militärischen Konflikt eskalieren könnte, ein Krieg, in dem der Einsatz von atomaren Waffen auch auf deutschem Boden nicht nur denkbar, sondern unabwendbar werden würde.
In dieser Situation spielt sich am 26. September ein Vorgang ab, der ohne Beispiel ist.

15 Minuten entscheiden über die Zerstörung der Erde

Der Hauptakteur heißt Stanislaw Petrow. Er ist Jahrgang 1939. Tatort ist Serpuchow-15, ein „Dorf“ in der Nähe Moskaus. Dort ist das sowjetische Raketen-Frühwarnsystem untergebracht: in einem riesigen Gelände von 70 km Durchmesser in Bunkern. Petrow ist Oberstleutnant der Sowjetischen Luftwaffe in der Raketen- und Flugabwehr. Seine Aufgabe: die Überwachung des sowjetischen Luftraums zu leiten. Zu seinen Pflichten gehört, früh und fehlerfrei einen Raketenangriff des Westens gegen den Osten festzustellen. Die Nachricht davon musste dann unverzüglich weitergeleitet werden an die politische Führung mit dem Nachfolger Breschnews, Juri Andropow, an der Spitze. Dieser hätte dann den Abschuss der sowjetischen Raketen zu befehlen. Das Ganze muss innerhalb von 15 bis 20 Minuten geschehen. Solange brauchen die Raketen aus den USA nach Moskau.
Von dem, was am 26. September 1983 passiert, berichtet Petrow: „Der Alarm ging gegen 0.15 Uhr los, vollkommen unerwartet. Wir hatten das oft geprobt, aber nun war es ernst. Die ganze Festbeleuchtung ging an, die Sirenen heulten, und auf den Bildschirmen blinkte in großen, roten Buchstaben: ,Raketenstart mit maximaler Wahrscheinlichkeit‘. Es war ein Schock, ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war der Diensthabende. Die anderen waren jüngere Offiziere, die dafür zuständig waren, die Raketen scharf zu machen. Sie waren ganz durcheinander und blickten mich an. Alle warteten auf meine Entscheidung.“
Petrow ist zunächst selber vor Entsetzen erstarrt. Es gelingt ihm, sich zu fassen und seinen Verstand auszurichten: Ein amerikanischer Atomangriff auf die Sowjetunion würde nicht mit einer einzelnen Rakete beginnen. Petrow telefoniert mit dem Generalstab. Noch während des Gesprächs meldete der Computer einen zweiten Raketenstart, dann einen dritten, vierten und fünften. Dem diensthabenden Offizier bleiben nur wenige Minuten, um die Flugkörper zweifelsfrei zu identifizieren. Danach muss Andropow informiert werden. Wenn dieser sich zum Abwehrschlag entschließt, ist sieben Minuten später ein ganzes Rudel sowjetischer Interkontinental-Raketen des Typs SS-18 unterwegs in Richtung Washington, New York und diverser US-Militärbasen in Europa – insbesondere nach Westdeutsch-land. Alles wird in Gang gesetzt nach der geltenden Doktrin von der „gesicherten gegenseitigen Zerstörung“.
Aber Oberstleutnant Petrow riskiert Kopf und Kragen und verweigert den Befehl zur Information Andropows. Warum? „Man kann die Vorgänge unmöglich in ein paar Minuten gründlich analysieren“, erklärt er den Vorfall 20 Jahre später. „Man kann sich nur auf seine Intuition verlassen“. Also entscheidet Petrow intuitiv und geht noch einmal von einem Irrtum aus. Er riskiert alles, spielt mit seinem Schicksal, einer Verurteilung wegen Befehlsverweigerung. Andererseits hätte ein nuklearer Schlagabtausch, ein „Atomkrieg aus Versehen“, dramatische Konsequenzen.
Und Petrows Intuition wird bestätigt – Fehlalarm.
Die Untersuchungen ergeben: Der sowjetische Weltraumsatellit Kosmos 1382 hat Reflexionen von Sonnenstrahlen in der Gegend der amerikanischen Malmstrom-Raketenbasis in Montana für den Schweif einer startenden Rakete gehalten.
Welche Folgen hatte der Fehlalarm für Stanislaw Petrow? Seine Tat – besser: seine Nicht-Tat – bleibt zu Zeiten des sowjetischen Sozialismus unbekannt. Für ihn und die Zeugen wird ein strenges Schweigegebot erlassen. Erst 1991 berichtet die Nachrichtenagentur Prawda davon. Petrow wird weder gewürdigt noch bestraft. Aber seit seinem eigenmächtigen Handeln gilt er nicht mehr als zuverlässig. Seine Karriere endet, indem er auf einen bedeutungslosen Posten versetzt wird. Eine kleine Ehrung bekam er 1984 wegen seiner „Verdienste“ um den Aufbau der Raketenstation Serpuchow-15, nicht für das, wofür er am 26. September 1983 die Verantwortung übernimmt. Auch vereinzelte, weithin unbeachtet gebliebene Ehrungen – zum Beispiel der Dresden-Preis 2013 – konnten nicht mehr verhindern, dass er zu einem gebrochenen Mann wurde, der heute alkoholkrank, psychisch versehrt und physisch krank in der Nähe von Moskau lebt. Ein Film des TV-Senders arte zeigt ihn als einen manisch depressiven Patienten, der dauernd zwischen Depression und krankhaftem Hochgefühl, zwischen Nüchternheit und Betrunkenheit taumelt.

Eigentlich hätte ein anderer an diesem Tag Dienst getan

Am 26. September 1983 hatte Stanislaw Petrow seinen Dienst unvorhergesehener Weise angetreten. Ein Kollege war erkrankt. Hätte dieser kein Fieber gehabt, hätte anstelle Petrows ein Anderer die Wache schieben müssen … Zufall? Fügung?
Petrow musste bei der Untersuchung des Falls immer und immer wieder auf dieselben Fragen antworten. Der Leiter der Arbeitsgruppe reizt den Offizier so sehr, dass er nur noch ein „Das hing vom lieben Gott ab“ hervorbringen kann, womit er den Vorgesetzten noch mehr in Rage bringt.
Petrow erinnert sich: „Nun wurde der wütend wie ein Stier, begann mit den Füßen zu trampeln. Wir waren ja ein atheistisches Land. Aber ich entgegnete ihm: ,Andere Informationen habe ich nicht.‘“