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Das Gewissen Südamerikas zieht sich zurück

„Bis hierhin und nicht weiter“, sagte José Mujica in seinem vermutlich letzten Interview. Der frühere Aufständische und Ex-Präsident Uruguays ist final an Krebs erkrankt. Seinem politischen Wirken hat er mit dem Gespräch mit der uruguayischen Wochenzeitung „Búsqueda“ vergangenen Donnerstag ein Ende gesetzt. „Der Guerillero hat ein Anrecht auf Ruhe.“

Am auffälligsten neben seiner weißen Haarfülle, den buschigen Brauen und dem Schnauzer ist seine Bescheidenheit. Mujica, genannt Pepe, bekleidete nahezu alle Posten, die ein Politiker innehaben kann: In den 60er- und 70er-Jahren kämpfte er in der Stadtguerilla Movimiento de Liberación Nacional Tupamaros für ein sozialistisches Uruguay, die Militärdiktatur inhaftierte ihn elf Jahre, danach wurde er zuerst Abgeordneter, dann Minister und schließlich von 2010 bis 2015 mit einer sozialdemokratischen Koalition Präsident seines Heimatlandes.

Doch er blieb auf seiner Parzelle in der Nähe der Hauptstadt Montevideo wohnen, fuhr einen altersklapprigen VW Käfer und spendete einen Großteil seines Präsidentengehaltes. Der Ex-Guerillero prägte das kleine Uruguay mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern wie kaum ein anderer Politiker.

Internationale Bekanntheit erlangte der heute 89-Jährige durch die teilweise Legalisierung von Cannabis und Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Woche. Uruguay war damit das dritte Land in Lateinamerika nach Kuba und Guyana, das aufhörte, Frauen für die Ausübung ihrer Rechte zu kriminalisieren, und bleibt damit bis heute eine Ausnahme.

Rückblickend erwähnt Mujica die Bekämpfung der Armut als eines seiner Hauptthemen. Er halbierte als Präsident die Zahl der Armen in Uruguay von 18,5 auf 9,7 Prozent der Bevölkerung. Gleichzeitig baute er die Sozialsysteme aus und etablierte ein staatliches Programm für Sozialbauten. Doch statt seine Erfolge zu feiern, äußert sich der Politiker enttäuscht über das Verfehlte. Er schäme sich dafür, Präsident eines Landes gewesen zu sein, in dem Menschen an Hunger leiden, sagte er im Interview mit „Búsqueda“.

Kritisiert wird der charismatische Mann mit den kleinen, ausdrucksstarken Augen vor allem von der Rechten und von Umweltorganisationen. Naturschützer nehmen ihm die Förderung des Bergbaus und eine intensive Forstwirtschaft übel. Rechte Kreise sehen in der Legalisierung von Cannabis einen Fehlschuss, der kaum dabei geholfen habe, den illegalen Drogenmarkt zu kontrollieren. Die Realität scheint ihnen Recht zu geben: Uruguay ist mittlerweile sogar zu einem Handelsdrehpunkt für Kokain auf dem Weg nach Europa geworden.

Im Gegensatz zu vielen seiner linken Amtskollegen in Lateinamerika verzichtete Mujica darauf, seine Präsidentschaft auszudehnen. Er kritisierte auch wiederholt die Bestrebungen von Evo Morales in Bolivien und Nicolás Maduro in Venezuela, entgegen dem demokratischen Willen im Amt zu bleiben. Mujica wurde unter anderem dadurch zu einem moralischen Kompass der Linken in Lateinamerika.

Er hinterlässt eine Vision von einem Lateinamerika, das demokratischer und sozial gerechter sein könnte, als es heute ist. Uruguay selbst ist auch dank seiner Politik diesem Ziel deutlich näher als seine Nachbarländer.