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Das Geschenk der Sterblichkeit

Das Wissen um den Tod macht vielen Menschen Angst. Der Berliner Psychiater Jan Kalbitzer hat sich intensiv mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt – und meint: Sie macht das Leben erst sinnvoll

Mit Ende 30 packte den Berliner Psychiater Jan Kalbitzer (40) plötzlich eine diffuse Angst vor dem Tod – als glücklicher Familienvater, ohne schwer krank zu sein oder anderen erkennbaren äußeren Anlass. Im Gespräch mit Nina Schmedding schildert er seine Suche nach dem Ursprung der Angst, die ihm Wege aufzeigte, ein zufriedeneres Leben zu führen. Unter dem Titel „Das Geschenk der Sterblichkeit“ fasste er seine Erkenntnisse in einem Buch zusammen.

Herr Kalbitzer, der Titel Ihres Buches ist provokant gewählt. Ist Sterben denn wirklich ein Geschenk? Wäre das Leben nicht viel schöner ohne den Tod?
Nur auf den ersten Blick ist der Titel provokant. Durch den Genitiv ist er ja auf zweierlei Arten lesbar. Sterblichkeit ist kein Geschenk. Aber die Auseinandersetzung mit der Angst vor der eigenen Sterblichkeit kann uns beschenken. Indem sie uns dazu bewegt, nach einem Weg zu suchen, das Leben so zu führen, dass es wirklich zu den eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen passt. Wenn man – gerade in der Mitte des Lebens – eigene Grenzen anerkennen und auch Illusionen begraben muss, hilft einem die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Welche sind das für Sie?
Vor allem lebe ich mehr in der Gegenwart. Ich grüble weniger über die Vergangenheit und mache mir weniger Gedanken über die Zukunft, sondern beschäftige mich mehr damit, was jetzt so ansteht. Außerdem lasse ich meinen Gefühlen in mir mehr Raum. In westlichen Gesellschaften werden die meisten Dinge ja kognitiv abgehandelt. Für Gefühle ist wenig Platz, weil wir in sehr wenig Zeit sehr viel unterbringen wollen. Dann drängen sich diese Gefühle irgendwohin, etwa in die Einschlafzeit, oder sie äußern sich in Herzstolpern und Ängsten. Wir müssen lernen, Gefühle in uns zu halten und dort damit umzugehen – statt sie sofort impulsiv wieder rauszulassen oder uns durch äußere Reize abzulenken.

Sie haben auf Ihrer Sinnsuche alte Philosophen befragt und Samba getanzt. Außerdem haben Sie sich mit vielen Menschen unterhalten, darunter Psychotherapeuten, auch Geistliche. Was hatten die Ihnen zu sagen?
Ich bin kein religiöser Mensch, auch wenn ich mich mit 20 nach einem Taizé-Besuch habe evangelisch taufen lassen. Aber ich hatte immer meine Schwierigkeiten mit der Religion, mit einem Gotteskonzept. Pfarrer haben mich hingegen oft beeindruckt. Der Pfarrer, mit dem ich über meine Todesangst gesprochen habe, war gnädig mit sich und mir, großzügig und geduldig.
Sehr stark ausgeprägt war das auch bei Frère Roger, dem Gründer von Taizé, der mich als Psychiater sehr inspiriert hat…

Inwiefern?
Für ihn hatte die Akzeptanz, dass uns die Perspektive anderer Menschen auf die Welt in ihrer Gesamtheit immer unverständlich bleiben wird, viel mit Spiritualität zu tun. Die größte Herausforderung war für ihn, trotz seiner Lebenserfahrung jedem Menschen unvoreingenommen zu begegnen, statt sich zu sagen: „Ich weiß genau, wie du tickst“. Diese Demut vor anderen verändert einen selbst als Person und den eigenen Umgang mit der Welt – sogar ohne Gotteskonzept.

Warum?
Wenn man akzeptiert, dass die eigene Sicht auf die Welt nicht das einzig Wahre ist, nimmt das auch die Last, eine absolute Erklärung für die Welt finden zu müssen. Denn wenn man akzeptiert, dass man sein Gegenüber nie ganz begreifen kann und trotzdem gut miteinander zurecht-kommt, dann kommt man auch mit der Unbegreiflichkeit der Welt besser zurecht, wird zufriedener.

Was macht diese Zufriedenheit aus?
Man muss verstehen, dass es den großen Sinn des Lebens da draußen nicht gibt. Den muss man sich im Alltag immer wieder selbst entwerfen. Und wenn wir das tun, werden die Dinge, die wir tun, wertvoll – dann fühlt sich auch das Leben wertvoller an. Das ist das Geschenk der Sterblichkeit: Wenn ich einsehe, dass niemand anders eines Tages meinen Tod sterben kann, nur ich selbst, dann zwingt mich das dazu, das Geschenk des eigenen Lebens besser zu begreifen. Dann muss man anfangen, wirklich darüber nachzudenken, was man mit diesem Geschenk anfangen will.

Ist diese Selbstbeschau, dieses Untersuchen der eigenen Todesangst, nicht ein Luxusproblem? In Ländern etwa, in denen die Menschen um das Überleben kämpfen, bleibt dafür wenig Zeit.
Die exzessive Auseinandersetzung damit betrifft wohl eher Überflussgesellschaften, ja.
Interessanterweise hat ausgerechnet der Psychiater Viktor
Frankl, der seine Familie im Holocaust verloren hat, später den Begriff der „Sonntagsneurose“ geprägt. Dieser besagt, dass Menschen, die die ganze Woche arbeiten, dann am Sonntag, wenn sie Zeit für sich haben, vor der inneren Leere stehen. Das heißt, diese Frage nach dem Sinn des Lebens entsteht immer, wenn Zeit dafür ist. Und so wie sich die Welt entwickelt, wird es für viele Menschen diese Zeit geben.

Frankl hat auch einmal gesagt: „Sinn muss gefunden werden, kann nicht erzeugt werden.“
Genau, wir müssen selbst entscheiden, welchen Dingen wir im Leben Sinn geben. Meine aktuell größte Sorge ist, dass es immer mehr Zynismus, Destruktivität und auch Nihilismus gibt. Ich sehe bei einer Reihe von Menschen, dass sie die Suche nach vernünftiger Sinngebung aufgegeben haben, weil sie beim Streben nach Anerkennung von außen enttäuscht worden sind. Wir müssten uns deshalb vielmehr darum kümmern, dass es auch außerhalb der klassischen gesellschaftlichen Anerkennungsmuster Sinn für das einzelne Leben gibt.

Für Sinnvermittlung sind ja auch die Kirchen zuständig.
Ja, die Kirchen könnten sehr inspirierend sein, wenn sie sich nicht so sehr hinter Machtstrukturen und Pomp verstecken würden.
Als ich mich damals beim Glaubensbekenntnis nicht zur „heiligen christlichen Kirche“ bekennen wollte, weil das eine Institution ist, meinte ein sehr kluger Pfarrer zu mir: „Kirche, das ist in dir!“ Wenn das mehr als nur einzelne Seelsorger begreifen und auch so umsetzen würden, könnten die Kirchen wieder ein Vorbild zur Lösung der Probleme unserer Zeit sein.