Artikel teilen:

Das Fatigue-Syndrom ist seit der Pandemie auf dem Vormarsch

Immer mehr Menschen erhalten die Diagnose ME/CFS. Bislang ist in Deutschland jedoch wenig über die neuroimmunologische Erkrankung bekannt. Betroffene kämpfen daher mit belastenden Vorurteilen.

Bis zu 22 Stunden am Tag verbringt Sandra Görlitz im Liegen. Jede Bewegung strengt die 49-Jährige an. Für Wege über 200 Meter benötigt sie einen Rollstuhl. Doch auch hier spielt die Kraft häufig nicht mit. “Meine Arme sind zu schwach, als dass ich mich selbst anschieben kann”, berichtet sie.

Auch Susanne Kostorz (54) kämpft täglich gegen die Ermüdung von Muskeln und Gemüt. Hinzu kommt, dass sie nur noch 20 verschiedene Lebensmittel zu sich nehmen kann. Ein saftiges Schokoladencroissant zum Frühstück, eine leckere Pizza zum Mittag oder eine Tasse Kaffee am Nachmittag – all das gehört für die Hamburgerin der Vergangenheit an. Ebenso ihre große Leidenschaft, das Schwimmen: Dafür reicht die Kraft nicht mehr aus.

Beide Frauen leiden an der neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom). Nach Angabe der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS sind rund 250.000 Menschen in Deutschland davon betroffen. Durch die Corona-Pandemie steigt diese Zahl – wie hoch genau, ist schwer zu ermitteln, denn die Forschung auf dem Gebiet beginnt in Deutschland erst allmählich. Einiges ist dennoch bereits bekannt.

“Bei vielen Patientinnen und Patienten treten erste Symptome der Krankheit nach einer viralen Entzündung oder anderen bakteriellen Entzündungen im Körper auf”, sagt Michael Stark, Facharzt für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sein Spezialgebiet ist die Diagnostik und Therapie von ME/CFS. “Es fühlt sich an wie eine Grippe, die nicht mehr weggeht – 24 Stunden, sieben Tage die Woche”, so beschreibt es Sandra Görlitz.

Häufig sind laut Stark das Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) oder das Coronavirus Auslöser der Erkrankung. “Klingen die Symptome über sechs Monate lang nicht ab und bleibt die chronische Erschöpfung, kann dies ein Indiz dafür sein, dass es sich um ME/CFS handelt.” Doch die Folgen einer Infektion allein bedingen nicht zwangsläufig eine Erkrankung.

Stark hat beobachtet, dass viele Betroffene bereits zuvor bei der Bewältigung des Alltags an ihre Grenzen gestoßen sind. “Viele meiner Patienten waren vor der Erkrankung High Performer”, erklärt er. Darunter summiert der Professor Menschen, die ein hohes gesellschaftliches Engagement aufweisen oder Lebensbedingungen ausgesetzt sind, die Überlastung begünstigen: Stress im Job, die kräftezehrende Pflege von erkrankten Angehörigen und Probleme in der Familie sind Beispiele dafür.

Die hohe Belastung mache angreifbar: “Kommt dann noch ein Virus hinzu, ist es möglich, dass das Immunsystem in die Überlastung hineingetrieben wird. Dem natürlichen Abwehrsystem des Körpers wird der Boden unter den Füßen weggezogen.” Die andauernde Überlastungssituation lasse sich messtechnisch nachweisen, so Stark.

Genau hier liege der Unterschied zu Krankheiten, die rein psychisch bedingt sind. Damit spricht Stark einen wunden Punkt vieler Betroffener an, denn eine Diagnose wird nicht immer sofort gestellt. In der deutschen Ärzteschaft herrsche aktuell viel Unwissenheit, kritisiert der Experte.

Das bestätigt Patientin Görlitz: “Bevor ich die Bestätigung hatte, dass ich ME/CFS habe, musste ich viele Ärzte aufsuchen. Die meisten Mediziner haben meine Symptome – chronische Müdigkeit, Erschöpfung wie nach einem Marathon, Muskelzittern und Schwindel beim Aufstehen – auf die Psyche geschoben.” Erste Symptome hatte sie bereits um die Jahrtausendwende, doch erst seit 2013 lebt sie mit der Diagnose ME/CFS. Auch bei Susanne Kostorz vergingen über 16 Jahre, bis sie eine Diagnose bekam.

“Heute weiß ich, was mir gut tut und was nicht”, sagt Kostorz. So muss sie zum Beispiel genau darauf achten, was sie isst. Ausreichend Schlaf, viele Pausen im Alltag – nicht nur nach körperlichen, sondern auch nach geistigen Anstrengungen wie Telefonaten oder dem Lesen eines Buchs – gehören dazu, damit die Symptomlast nicht erhöht wird. Die Medizin nennt diese Methode Pacing, zu Deutsch etwa “sich selbst das richtige Tempo vorgeben”. Doch durch das Pacing ist ihr Alltag stark reglementiert. Ein Kinobesuch mit Freunden, zwei Telefonate hintereinander oder ein zu langer Spaziergang sind für sie nicht möglich.

Wenn Kostorz von diesem Alltag erzählt, nutzt sie immer wieder die Formulierung: “Wenn ich das nicht tue, geht es mir noch schlechter”. Nach diesem Prinzip richtet sie, wie viele andere Betroffene auch, ihren Alltag aus. Wieder arbeiten gehen zu können, kommt weder für die frühere Kommunikationsleiterin Kostorz noch für Außenhandelskauffrau Görlitz infrage. Beide sind arbeitsunfähig und berentet beziehungsweise kämpfen aktuell vor Gericht dafür.

Auch wenn momentan nur die Symptome von ME/CFS behandelt werden können, nicht aber die Krankheit selbst, räumt Mediziner Stark mit dem Vorurteil auf, dass die Krankheit unheilbar sei. “Neben der Symptombehandlung, beispielsweise durch Medikamente zur Regulation des Immunsystems oder der gezielten Anregung der Durchblutung gewisser Organe, ist die Reduktion von Stress oberstes Gebot.”

Betroffene müssten lernen, die Belastungsgrenzen des Körpers ernst zu nehmen und achtsam damit umzugehen. Dabei könne zum Beispiel Mediation helfen. “Es geht darum, dass die Patienten wieder ein Niveau erreichen, auf dem sie handeln können”, so Stark. Dennoch würden viele Betroffene empfindsamer bleiben und könnten nicht auf das Leistungslevel vor der Erkrankung zurückkehren.

Susanne Kostorz hat nach eigenen Worten aufgehört zu träumen – zu groß ist auch die Belastung der Psyche durch die starken Symptome. Ein Spiralprozess, wie sie es nennt. 20 Jahre Krankheit hätten bei ihr die Demut wachsen lassen. Ein kleines Ziel hat sie dennoch: “Wieder ein bis zwei Lebensmittel mehr essen zu können, wäre toll. Und vielleicht irgendwann mal wieder eine Bahn zu schwimmen.”