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Das elektronische Ohr

An sein erstes Cochlea-Implantat kann Julius Jung sich nicht erinnern, denn das hat er mit sieben Monaten bekommen, vor 21 Jahren. „Das zweite gab es dann im Kindergarten, daran erinnere ich mich ein bisschen.“ Der Student ist taub zur Welt gekommen, sein Vater ist Sohn gehörloser Eltern, seine Einschränkung daher genetisch bedingt.

Mittlerweile hat Julius schon einige der Innenohrimplantate erhalten. „Sie werden kleiner und technisch immer besser, mit den neusten Geräten kann ich mich sogar mit Bluetooth verbinden“, sagt er. Und er kann sie abschalten. Denn wenn er seinen Hörhilfen gewissermaßen den Stecker zieht, hört er nichts mehr. „Das ist wie ein Rückzug für mich“, erzählt der junge Mann. Einfach nur für sich sein, alle Einflüsse und Reize von außen auszuschalten sei wichtig für ihn. „Danach ist dann wieder Platz für Neues.“

Taub und trotzdem hören können? Was für viele immer noch unglaublich klingt, ist längst Realität. 1984 setzte der Hör-Pionier Professor Ernst Lehnhardt an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) vier Patienten erstmals ausgereifte Cochlea-Implantate ein – und gehörte damit weltweit zu den ersten, die diesen Eingriff wagten. Heute leben nach MHH-Angaben allein in Deutschland mehr als 55.000 Kinder und Erwachsene mit der Innenohrprothese. Experten gehen davon aus, dass bis zu einer Million schwerhörige Menschen von der Technologie profitieren könnten.

Dank des Implantats können gehörlos geborene Kinder in der Welt des Hörens und der Lautsprache aufwachsen. Ebenso können in späterem Lebensalter ertaubte Menschen in diese Welt zurückkehren. Die elektronischen Hörprothesen können darüber hinaus stark Hörbeeinträchtigten helfen, denen konventionelle Hörgeräte nur eine geringe oder überhaupt keine Verbesserung bringen.

Cochlea-Implantate haben zwei Komponenten. Der am Hinterkopf getragene äußere Teil hat etwa die Größe eines konventionellen Hörgerätes und besteht aus einem Mikrofon und einem Klangprozessor. Dieser wandelt die akustischen Signale, die das Mikrofon aufnimmt, in elektrische Impulse um und leitet sie weiter an den inneren Teil des Cochlea-Implantats. Von dort leiten Elektroden die elektrischen Signale in die Hörschnecke – auf Lateinisch Cochlea – im Innenohr weiter. Die elektronischen Impulse stimulieren den Hörnerv, der sie ins Hörzentrum des Gehirns weiterleitet. Dort werden sie, ebenso wie bei Menschen mit unversehrtem Ohr, als akustische Signale interpretiert und verarbeitet.

Bei Neugeborenen wird eine Hörstörung in der Regel bei einem sogenannten Hörscreening überprüft. „Dieser Hörtest ist objektiv, daher ohne Mitarbeit des Babys möglich“, erläutert Professor Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik und des Deutschen Hörzentrums an der MHH. „Je früher eine Schädigung festgestellt und mit einer Therapie begonnen wird, desto besser die Chancen auf gute Hörentwicklung“, erläutert Lenarz.

An keinem Standort der Welt werden mehr Menschen mit einem Hörimplantat versorgt als an der MHH. 2023 erhielten in Hannover 440 Patientinnen und Patienten ein Cochlea-Implantat, die Klinikleitung peilt nach eigenen Angaben bis zu 600 Eingriffe im Jahr an. „Es gibt nur drei Hersteller am Markt, so können wir die Produkte alle gleichmäßig an einer ausreichenden Zahl von Patienten anwenden, überprüfen und weiterentwickeln“, sagt Lenarz. Gründe für Gehörlosigkeit seien neben genetischen Faktoren eine Schädigung des Innenohrs oder im späteren Lebensalter auch Infekte wie eine Hirnhautentzündung.

Um vor allem taub geborene oder zu Lebensbeginn ertaubte Kinder bestmöglich versorgen zu können, wurde 1990 in Hannover das Cochlea Implant Centrum Wilhelm Hirte eröffnet, das nach eigenen Angaben weltweit erste Rehabilitationszentrum für Kinder mit Cochlea-Implantaten. Barbara Eßer-Leyding, die die 21 Reha-Plätze fassende Einrichtung leitet, schätzt, dass ein bis zwei Kinder von 1.000 Geburten von einer Hörschädigung betroffen sind, die unbehandelt weitreichende Folgen für die Entwicklung der kleinen Patienten haben könne. „Denn beim Thema Hören geht es auch um das Thema Sprechen und Verstehen“, sagt die Sprachtherapeutin. Eine Versorgung in den ersten Lebensmonaten sei für den Spracherwerb eine essenzielle Voraussetzung.

Die Reha im Wilhelm-Hirte-Zentrum umfasst 40 Tage, die sich auf gut zwei Jahre verteilen. Vier bis sechs Wochen dauere die Heilung nach der Implantation, anschließend gehe es darum, die Geräte individuell anzupassen, die Frequenzen richtig einzustellen, führt Eßer-Leyding aus. „Die meisten unserer Patienten kennen nur das Hören mit dem Implantat. Sie können nicht vergleichen“, ergänzt sie. Ziel beim Einrichten der Implantate sei ein „möglichst natürlicher Klang“, der auch Hörerlebnisse wie Musikgenuss ermögliche.

Julius Jung genießt längst Musik über seine Hörprothesen. Er nimmt diese zum Schlafengehen heraus. Es gehöre zum Ritual, „dass ich dann null höre“, sagt er. Dass er mit einer Maximaleinstellung von 120 Dezibel nicht alles – etwa Blaulichteinsätze – so extrem hört wie andere, empfindet er als Vorteil. „Die Implantate senken durchaus den Hörstress“, sagt er.