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Damit wir uns für unsere Welt nicht schämen müssen

Scham bedeutet das Gefühl, falsch zu sein, schreibt Tash Hilterscheid, Pfarrperson für queersensible Bildungsarbeit der Nordkirche in einer Kolumne. Davon seien besonders queere Menschen betroffen.

Niemand muss sich für seine geschlechtliche Identität oder seine Liebe schämen
Niemand muss sich für seine geschlechtliche Identität oder seine Liebe schämenIMAGO / ZUMA Press Wire

Mein Atem wird flacher. Etwas in mir zieht sich zusammen. Stressflecken entstehen auf meiner Haut. Ich möchte am liebsten verschwinden, mich unsichtbar machen. So fühlt sich Scham an. In den körperlichen Reaktionen kaum von Angst zu unterscheiden.

Die soziologische Funktion von Scham ist soziale Kontrolle. Beschämend ist, was die Gemeinschaft nicht toleriert. Und wenn wir uns schämen, befürchten wir den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Scham bedeutet das unerträgliche Gefühl, „nicht richtig“ zu sein – und damit nicht zugehörig.

Tash Hilterscheid: Dann verleugnen wir uns

Weil wir Menschen den Schutz des „Rudels“ brauchen, tun wir alles, um dazuzugehören. Wir unterdrücken die Anteile, die nicht gefallen könnten. Wir verleugnen uns selbst. Deshalb ist Scham meistens ein Hinweis darauf, dass wir etwas in uns unterdrücken. Etwas, das wir nicht haben wollen, weil es unsere vermeintliche Sicherheit gefährdet.

Doch hinter der Scham liegen oft bunte, lebendige und liebenswerte Anteile. Aber anstatt ihnen eine Bühne zu geben, verstecken wir sie: unsere Verletzlichkeit, unsere Bedürftigkeit, unsere Sehnsucht, unseren Körper und seinen Ausdruck.

Auf den Paraden zum Christopher Street Day geht es bunt zu, wie hier in Potsdam
Auf den Paraden zum Christopher Street Day geht es bunt zu, wie hier in PotsdamImago / Martin Müller

Bei der alljährlichen Demonstration zum Christopher Street Day gehen Menschen auf die Straße, die wissen, was es heißt, sich selbst zu verleugnen. Sie kämpfen für das Recht, da zu sein, sich zu zeigen, mit allen Anteilen – ohne beschämt zu werden. Gerade deshalb werden an diesem Tag all die Anteile, die im Alltag aus Angst vor Bewertung und Ablehnung unterdrückt werden, gefeiert. Sie werfen sich in Schale, schminken sich bunt und streuen Glitzer. Die Scham wird vom Stolz umarmt. Und gemeinsam schwenken sie die Regenbogenflagge für Vielfalt und Lebendigkeit. Gegen die Angst vor dem Hass und dem Ausschluss. Und gegen die Scham.

Was die Bibel zum Thema Scham sagt

Der biblischen Überlieferung zufolge wurde die Scham erst wirksam, als sich der Mensch von G*tt abgegrenzt hat. Zuvor gab es keinen Grund, sich zu schämen, keinen Grund, sich zu fürchten. Die bedingungslose Annahme und Zugehörigkeit waren sicher. Es gab keinen Grund, sich zu verstecken. Und es gibt ihn nach wie vor nicht. Nicht aus g*ttlicher Sicht. Es sind Menschen, die an der Scham festhalten und sie nutzen, um unerwünschte Anteile auszuschließen, weil sie nicht den Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft entsprechen.

Aktuell sind es insbesondere queere Menschen, denen deutlich gemacht wird, dass sie unerwünscht sind. Die Anzahl queerfeindlicher Gewalttaten in Deutschland ist die höchste, die je gemessen wurde. Auch die CSD’s werden immer häufiger Ziel rechtsextremer Angriffe. Einige CSD’s wurden in diesem Jahr bereits aufgrund einer „diffusen Gefahrenlage“ abgesagt.

Tash Hilterscheid schreibt in einer neuen Kolumne über queeres Leben
Tash Hilterscheid schreibt in einer neuen Kolumne über queeres LebenRebekka Krüger

Die Nordkirche möchte sich an die Seite derer stellen, die Angst davor haben, zu lieben und zu leben, wie sie sind. Sie folgt damit Jesus, der stets alle Anteile an einen Tisch geholt hat. Gerade die, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden. Gerade die, die krank waren vor Angst. Gerade die, denen eingeredet wurde, dass sie sich schämen sollten. Er hat ihnen Mut gemacht, weiter sichtbar zu sein. Und alle anderen hat er daran erinnert, dass wir miteinander verbunden sind und Diskriminierung immer alle Menschen betrifft – weil wir Teil einer Gemeinschaft sind, die als Nächstes auch dich ausschließen könnte.

Deshalb tun wir gut daran, mit all unseren Anteilen, die nicht gefallen könnten, verbunden zu bleiben und gleichzeitig solidarisch mit denen zu sein, die jetzt Unterstützung brauchen. Damit wir uns für unsere Welt nicht schämen müssen!

Tash Hilterscheid ist die neue Pfarrperson für queersensible Bildungsarbeit der Nordkirche. Ab sofort schreibt Hilterscheid jeden Monat in einer Kolumne über queeres Leben – im kommenden Monat etwa über die Schreibweise G*tt.