Seit mehr als drei Jahrzehnten lebt und arbeitet der deutsche katholische Pfarrer Manfred Deselaers in Oswiecim. Nahe dem ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau leitet der 68-Jährige eine internationale Begegnungsstätte. Das jetzt im Freiburger Verlag Herder erschienene Interview-Buch “Die Wunde von Auschwitz” beschreibt Deselaers’ Auseinandersetzung mit dem Grauen des nationalsozialistischen Massenmords. Darin fragt er auch nach Perspektiven für die Zukunft.
Die Begegnungen und Freundschaften mit Überlebenden des Konzentrationslagers bezeichnet Deselaers als Schlüsselerlebnisse seines Lebens. Auch nach Jahrzehnten des Nachdenkens und der Erinnerungsarbeit sei ihm klar, “dass es nicht darum geht, alles bis ins Letzte zu verstehen”. Letztlich blieben die in Auschwitz verübten Verbrechen unerklärlich. Die Überlebenden hätten ihn aber immer zu seinem Engagement am ehemaligen Ort des Grauens ermutigt. “Meine Antwort muss nicht so groß sein, wie das Böse in Auschwitz war.”
Das zunächst in Polen erschienene, 300-seitige Interview-Buch ist zugleich ein Zeugnis darüber, wie der christliche Glaube Leitfaden für Deselaers’ Engagement für Frieden und Dialog in Oswiecim ist. Er organisiert und leitet Seminare für internationale Besucher und organisiert Zeitzeugengespräche. Für die heutige Generation sei es am wichtigsten, aus Auschwitz Lehren für aktuelle Friedenspolitik zu ziehen, sagt der Pfarrer.
Die Frage, warum Gott Auschwitz zugelassen hat, beantwortet Deselaers auf eigene Weise: “Wir haben kein Recht, Gott die Verantwortung für das, was geschehen ist, in die Schuhe zu schieben.” Die Verbrechen seien von Menschen verübt worden. Und gleichzeitig ist er überzeugt, dass Gott die von den Nationalsozialisten nach Auschwitz Deportierten nicht allein gelassen habe. “Es geschah ohne seine Zustimmung, dass Menschen auf verwertbares Material reduziert wurden. Wo war Gott in Auschwitz? Er war in der Würde des Menschen.”
Deselaers leitet das von der katholischen Kirche gegründete und finanzierte “Zentrum für Dialog und Gebet” in Oswiecim. Er ist einer der bekanntesten Experten für NS-Gedenkarbeit aus christlicher Perspektive. Promoviert hat er über den Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß. Das Buch geht auch der Frage nach, ob NS-Verbrecher auf göttliche Vergebung hoffen dürfen. Für diesen Ansatz wurde Deselaers vielfach kritisiert.