“Boléro” ist ein biografisches Drama über das Leben und Schaffen des französischen Komponisten Maurice Ravel (1875-1937) – mit besonderem Blick auf die Genese seines berühmtesten Orchesterwerkes.
14 Minuten und 21 Sekunden. Zwei Melodien, A und B, in 18 Variationen: das ist “Boléro”, ein Stück für Orchester mit Ballett, komponiert von Maurice Ravel im Auftrag der Choreografin und Tänzerin Ida Rubinstein. In Arbeit gegeben hat Rubinstein das Werk 1927. Ravel arbeitete daran von Juli bis Oktober 1928. Die Uraufführung fand am 22. November 1928 in Paris statt. “Boléro” sorgte für Begeisterungsstürme, wurde zum Gassenhauer und ging um die Welt. Er wurde und wird geträllert, gepfiffen und in zahllosen Variationen gespielt.
Der gleichnamige Film von Anne Fontaine serviert im Vorspann eine bunte Collage aus Impressionen von Aufführungen aus aller Welt. Noch immer, heißt es am Ende des Films, werde das Stück alle 15 Minuten irgendwo auf der Welt gespielt. Musikgeschichtlich gilt “Boléro” als One-Hit-Wonder; er ist das bekannteste Werk des Komponisten. Die Niederschrift einer Komposition, sagt der ebenso virtuos wie enigmatisch von Raphael Personnaz gespielte Musiker, gehe bei ihm immer sehr schnell. Davor aber brauche er endlos Zeit, um sich zu verlieren und zu verzetteln und in dieser Verzettelung zur Inspiration zu finden.
Diese Zeit der Verzettelung bildet den ersten Teil des Films. Die Erzählung folgt dabei lose Ravels Lebensweg. Er zeigt den Musiker 1927 in seinem Alltag in Paris. Bei gesellschaftlichen Anlässen, im Zusammensein mit Freundinnen und Freunden und zufälligen Treffen mit Bekannten, auch bei Bordellbesuchen. In den ersten Monaten von 1928 begibt sich Ravel auf eine Konzerttournee, die ihn durch die USA und Kanada führt. Innerhalb von vier Monaten tritt er in 25 Städten auf und kommt dabei auch mit der brodelnden US-Jazz-Szene in Kontakt, die ihn stark berührt.
Zurück in Frankreich macht er sich zuhause oder in einem Haus am Meer an die Komposition des titelgebenden Musikstücks, das nach Vorgabe der Auftraggeberin spanisch inspiriert sein soll. Er findet schließlich in der vom rhythmischen Rattern und Knattern geschwängerten Geräuschkulisse einer Fabrik, in Melodien populärer Songs und in Alltagsgeräuschen wie dem Ticken eines Weckers oder Kirchenglocken die Inspiration zu seinem eigenwilligen Stück.
In die filmische Gegenwart assoziativ eingeschoben sind Erinnerungen an Ravels Vergangenheit. Impressionen aus der Kindheit. Momente mit seiner Mutter, die ihm vieles über die Welt erzählt und mit der er auch im Erwachsenenalter noch zusammenwohnt. Einige Szenen zeigen ihn während seiner Studentenjahre am Konservatorium in Paris. Es gibt auch Rückblenden, die ihn während seines Einsatzes als Sanitätssoldat im Ersten Weltkrieg zeigen, aus dem er im Winter 1916 verfrüht nach Paris zurückkehrt. Wenige Monate später stirbt seine Mutter.
Die Regie von Fontaine konzentriert sich sowohl auf der Erinnerungsebene als auch in der gegenwärtigen Erzählung weniger auf die Ereignisse, sondern interessiert sich für die dadurch ausgelösten Befindlichkeiten des Protagonisten und sein inneres Erleben. Wenn der “Boléro” nach etwa zwei Dritteln des Films endlich uraufgeführt wird, zeigt Fontaine einige Impressionen von Rubinsteins Tanzdarbietung und dem Orchester, folgt dann aber Ravel vor die Tür, wo er sich in einen Disput mit Misia Sert verstrickt. Erst kurz vor Ende des Stücks kehren Ravel und Sert in den Konzertsaal zurück.
Das ist nicht unbedingt das, was man in einem Film erwartet, der sich um ein Musikstück dreht. Die Tonspur ist, wie es sich für einen Film geziemt, der sich vertiefend mit Musik auseinandersetzt, sensationell präzise gestaltet und im Ton exquisit.
Eine innere Verlorenheit erfasst Ravel in dem Film immer wieder. Sie wirkt befremdlich, funktioniert aber wie eine Ankündigung für eine nicht näher erklärte Demenzerkrankung, mit der Ravel in seinen letzten Jahren zu kämpfen hatte und die ihn zunehmend von anderen absonderte. Ebenfalls befremdlich wirkt, wenn man nicht darauf vorbereitet ist, dass Ravel seine Muse und große Liebe Misia Sert nie berührt oder küsst und bei Bordellbesuchen nicht das sexuelle Abenteuer sucht, sondern Gesellschaft und Geselligkeit. Tatsächlich war Ravel nicht nur nie verheiratet, sondern hielt sich auch mit Äußerungen über seine sexuelle Orientierung strikt bedeckt.
Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen stellt Fontaine dem Komponisten drei Frauen als engste Vertraute zur Seite, die ihn nach dem Tod seiner Mutter jahrelang begleiten. Neben Misia Sert sind das die mit Ravel seit Studientagen befreundete Pianistin Marguerite Long und seine Haushälterin Madame Revelot. Die drei Rollen sind mit Doria Tillier, Emmanuelle Devos und Sophie Guillemin glänzend besetzt. Anders als die von Jeanne Balibar als Exzentrikerin gespielte Rubinstein begegnen diese drei Frauen Ravel über all die Jahre hin gleichermaßen mit Geduld und Sanftmut.
Darin zeigt sich aber, was den Film, der in der Abhandlung dessen, was Ravels “Boléro” auszeichnet, höchst informativ ist und zu begeistern vermag, auf hohem Niveau dennoch scheitern lässt. Fontaine hat die Rollen der Frauen und ihr Verhalten gegenüber Ravel klar definiert. Misia ist seine Muse. Marguerite seine musikalische Sparringspartnerin, die sich auch um sein Wohlergehen kümmert. Revelot führt seinen Haushalt und bringt ihm seine Schuhe. Diese Rollen und Funktionen verändern sich über all die Jahre hin nicht, obwohl der Film Ravels Leben von der Kindheit bis zum Tod abdeckt.