“Blindgänger” ist ein vielschichtiges Drama um eine Handvoll Menschen, deren Wege sich kreuzen, als das Hamburger Schanzenviertel wegen einer Bombenentschärfung geräumt werden muss.
Das Schanzenviertel, kurz “Schanze” genannt, gehört mit Sankt Georg und Sankt Pauli zu den beliebtesten Ausgehvierteln von Hamburg. Am Wochenende ist hier der Teufel los, insbesondere im Sommer. Erlebnishungrige Partygänger treffen auf durstige Anwohner; die Bürgersteige sind auch am frühen Morgen noch proppenvoll. Dass dieses rege Treiben einmal zum Stillstand kommen könnte, kann man sich gar nicht vorstellen.
Und doch passiert es in dem Film “Blindgänger” von Kerstin Polte. Bei Bauarbeiten wird eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Archivbilder vom Juli 1943 zeigen, wie sie dort hingelangte. Einkreisungen mit Rotstift auf den Dokumentaraufnahmen verweisen auf die hohe Zahl von Blindgängern. Jeden Moment könnte die Bombe explodieren. Deshalb muss die Schanze evakuiert werden. Die Menschen müssen ihre Wohnungen verlassen, eine Turnhalle steht als Ausweichquartier bereit.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Polte ein Beziehungsgeflecht ähnlich wie bei Robert Altman, in dem sie mosaikartig mehrere Menschen mit ihren Schicksalen herausgreift und zu einem schillernden Reigen zusammenfügt. Etwa Otto Bismarck (Bernhard Schütz), den Chef des Kampfmittelräumdienstes, der die Bombe entschärfen soll. Doch der hat gerade erfahren, dass er an Prostatakrebs erkrankt ist. Seine Kollegin Lane Petersen (Anne Ratte-Polle), die übernehmen muss, sollte besser nicht mit Fliegerbomben hantieren.
Sie hat psychische Probleme; gegen ihre Panikattacken nimmt sie starke Tabletten. Die berufsgenossenschaftliche Psychologin hat ihr noch keine Erlaubnis für weitere Einsätze erteilt. Ihre demente Mutter (Barbara Nüsse) hingegen hat die verheerenden Bombenangriffe auf Hamburg als Kind miterlebt und weigert sich standhaft, ihre Wohnung zu verlassen. Als sie ihren Nachbarn Viktor Knigge (Karl Markovics) besuchen will, entdeckt sie nicht nur seine Frauenkleidersammlung, sondern auch den afghanischen Flüchtling Junis Nerwa (Ivar Wafaei), der sich vor der Polizei versteckt.
Die Inszenierung wechselt zwischen den einzelnen Erzählfäden weich und fließend hin und her. Dabei streift sie multiperspektivisch mehrere Themen, ohne den Überblick zu verlieren. Geschickt entfaltet sie ein Kaleidoskop menschlicher Schicksale. Von der Krebserkrankung bis zur Ehekrise, von der Flüchtlingsnot bis zum Transvestismus, von der beruflichen Überforderung bis zur Altersdemenz zeigt die Regisseurin die Protagonisten mit ihren Ängsten und Verletzungen, Fehlern, Sorgen und Obsessionen, aber auch ihrer Aufmüpfigkeit gegenüber staatlichen Organen. Erst im Miteinander, in der Begegnung mit anderen, erfahren sie Hilfe und Nähe, nicht zuletzt, weil sie bereit sind, auf andere zuzugehen.