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Beten und Tun des Gerechten

Was macht es mit den Menschen, wenn eine Seuche ausbricht und jede Begegnung potenziell den Tod bringen kann? Eine ganze Reihe von Romanautoren hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Der Bekannteste ist wohl Albert Camus mit „Die Pest“.

Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus ist zum Klassiker und  nicht selten zur Schullektüre geworden. Das liegt kaum an der eher spröden Sprache, sondern vor allem an der philosophischen Antwort auf die Frage, welche Folgen sich aus der Epidemie für das Denken und Handeln ergeben.

Die Geschichte ereignet sich im algerischen Oran zu Beginn der 1940er Jahre. Am Anfang ist es eine einzelne tote Ratte, über die der Arzt Bernard Rieux eines Morgens stolpert, doch bald nimmt ihre Zahl überall in der Stadt zu. Und dann sind es die ersten Patienten, die ein eigenartiges Krankheitsbild aufzeigen; kurz  darauf sterben einige von ihnen. Als es immer mehr werden, erkennen Ärzte die Pest als Verursacherin. Dann beschließt die Regierung: „Pestzustand erklären, Stadt schließen.“ Nicht wenige Bürger empfinden das als Verbannung, zumal „die größten Schwarzseher“ als deren Dauer ein halbes Jahr annehmen. „In dieser äußersten Einsamkeit konnte niemand auf die Hilfe der Nachbarn zählen, und jeder blieb mit seinen Gedanken allein.“

Erste kirchliche Deutung: eine Strafe Gottes

Die Kirchenbehörden beschließen „eine Woche des gemeinschaftlichen Gebetes“ mit einer Festmesse zum Abschluss. In der vollbesetzten Kathedrale beginnt der Jesuitenpater Paneloux seine Predigt mit den Worten: „Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient.“ Er versteht die Pest als göttliche Strafe. Zugleich aber ist sie Ausdruck göttlichen Erbarmens: „Sogar die Geißel, die euch martert, erhebt euch noch und zeigt euch den Weg.“

In einem Gespräch über die Predigt mit seinem Nachbarn Jean Tarrou erläutert Rieux, dass für ihn die Pest nur in einem sehr eingeschränkten Sinn etwas Gutes bewirken kann: „Das kann ein paar wenigen dazu helfen, größer zu werden. Wer jedoch das Elend und den Schmerz sieht, die die Pest bringt, muß wahnsinnig, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden.“  Für Rieux bedeutet die Pest trotz seiner unermüdlichen Heilungsbemühen „eine endlose Niederlage“.  Er verneint die Frage, ob er an Gott glaube: „Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, Menschen zu heilen, und diese Sorge ihm überlassen.“

Der Priester ist für den Arzt „ein Büchermensch. Er hat nicht genug sterben sehen, und deshalb spricht er im Namen einer Wahrheit. Aber der geringste Priester, der auf dem Lande seine Gemeinde betreut und dem Atem eines Sterbenden gelauscht hat, denkt wie ich. Er wird dem Elend zu steuern versuchen, ehe er es unternimmt, seine Vorzüge aufzuzeigen.“

Ein paar Monate darauf treffen sich beide am Bett eines sterbenden Kindes. Es leidet entsetzlich unter einem Fieberanfall. Nach dessen Tod reagiert der besonnene Rieux ungewohnt heftig auf Paneloux: „Ah! Der wenigstens war unschuldig, das wissen Sie wohl!“ Dieser murmelt: „Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht sollten wir lieben, was wir nicht begreifen können.“ Der Arzt protestiert: „Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.“

Kampf um Heilung und Seelenheil

Gleichwohl kommen beide sich jetzt näher, akzeptieren einander in ihren unterschiedlichen Aufgaben: Dem einen geht es um das Seelenheil, dem anderen um die körperliche Heilung der Menschen. „Was ich hasse, sind der Tod und das Böse“, sagt Rieux zu Paneloux, „und ob Sie es wollen oder nicht, wir stehen zusammen, um beides zu erleiden und zu bekämpfen.“ Und dabei die Hand des Priesters haltend fügt der Arzt, ohne ihn dabei anzuschauen, hinzu: „Jetzt kann Gott selber uns nicht scheiden.“

Paneloux wird Mitglied in einer freiwilligen Sanitätsgruppe. Und er lädt Rieux an, sich eine weitere Predigt von ihm anzuhören. Jetzt will er die Pest nicht mehr erklären, wohl aber aus ihr lernen. Er will das Leiden und Sterben eines Kindes nicht durch den Hinweis auf die himmlischen Freuden in der Ewigkeit abmildern. „Denn wer konnte schon behaupten, daß eine ewig dauernde Freude einen Augenblick menschlichen Schmerzes aufwog? Jedenfalls kein Christ, dessen Schmerz der Meister in seinen Gliedern und seiner Seele empfunden hat.“ Der Prediger „ahnte wohl, daß man das beängstigende Wort Fatalismus aussprechen werde. Nun denn, er wich auch vor diesem Ausdruck nicht zurück, wenn man ihm bloß gestattete, das Adjektiv ,tätig‘ hinzuzufügen.“ Und dies bedeutet: „Man mußte nur beginnen, in der Finsternis vorwärts zu gehen, ein wenig tastend, und versuchen, Gutes zu tun … und sich willig ganz Gott anzubefehlen.“

Was wiegt einen Moment des Schmerzes auf?

Paneloux, der treu an der Pest Erkrankte und Sterbende begleitet, stirbt bald darauf selber. Und auch Rieux‘ Freund Tarrou, der den Sanitätsdienst ins Leben gerufen hat, wird an der Pest sterben, absurderweise als die Epidemie nach gut einem Jahr bereits fast ganz abgeklungen ist. Auch er glaubt nicht an Gott, möchte aber wissen: „Kann man ohne Gott ein Heiliger sein?“ Worauf Rieux ihm antwortet: „Ich glaube, daß ich am Heldentum und an der Heiligkeit keinen Geschmack finde. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.“

Lediglich einen kleinen Ausschnitt aus diesem großen Roman habe ich hier wiedergegeben, nämlich seine philosophischen und theologischen Gedanken. Anderes entfällt dabei: beispielsweise die Reaktionen der Behörden und Regierung auf die Epidemie, die in vielem an das erinnern, was uns durch die Corona-Krise vertraut geworden ist; die unterschiedlichen Reaktionen und widerstreitenden Stimmungslager der Bewohner Orans, die sich in ähnlicher Weise in unseren Corona-Zeiten beobachten lassen; oder auch der an bestimmte Situationen in Italien oder Spanien erinnernde Umgang mit der kaum zu bewältigenden Menge an Verstorbenen, die ohne Trauerfeiern in Massengräbern beigesetzt werden. Allein alles dieses macht diesen Roman aktuell.

Die Seuche als Parabel auf Unfreiheiten

Allerdings: Camus geht es nicht um eine naturalistische Schilderung der Pest und ihrer Ausbreitung. Gleichsam als Interpretationshilfe steht nämlich vor dem ersten Kapitel ein Zitat von Daniel Defoe: „Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgendetwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.“ Von besonderem Interesse ist hier der erste Satzteil; er beinhaltet, dass der Roman als Parabel zu begreifen ist. Camus beschreibt die Gefangenschaft durch die Pest. Zugleich geht es ihm aber um die Gefangenschaft durch die Pest des Nationalsozialismus oder durch die Pest von Faschismus und Diktaturen. Zu lesen ist der Roman also nicht zuletzt als Aufforderung, sich am Kampf gegen die  politische Pest zu beteiligen, also in der Résistance mitzuarbeiten. In einem Brief erläutert Camus 1948: „Es gibt drei verschiedene Lesearten für Die Pest. Sie ist sowohl die Chronik einer Epidemie als auch Symbol der Besatzung durch die Nazis (und Abbild jeder totalitären Herrschaft) und drittens die konkrete Veranschaulichung eines metaphysischen Problems, das des Bösen.“

Ein Bund zwischen Priester und Nicht-Christ

Es wäre falsch, Camus christlich zu vereinnahmen. Gleichwohl gilt nicht nur für „Die Pest“: „Die Vorstellung von einem Gott, an den er nicht glauben konnte, verfolgte ihn.“ Darin stimme ich seinem Biografen zu, widerspreche jedoch seiner Behauptung, dieses Buch sei „nicht a-christlich, aber es ist – sehr gelassen und didaktisch – das antichristlichste Buch Camus‘“. Gewiss versteht Rieux sich als Nicht-Christ, gleichwohl schließt er am Ende mit dem Jesuiten einen Bund, seit der Augustinus-Spezialist seine auf ihn gründende dogmatische Überzeugung verlassen hat. Augustinus nämlich, so hält Camus in seinem Tagebuch fest, ist „der einzige christliche Denker von Format, der dem Problem des Bösen ins Gesicht geblickt hat“. Allerdings hat er „daraus den schrecklichen Schluß des ,Nemo Bonus‘ (Niemand ist gut außer Gott) gezogen“, und seither stehen die Christen „dem Bösen empört oder ergeben gegenüber“.

Gemeinsam mit Paneloux bekämpft er das Böse, weshalb die unterschiedliche philosophische und theologische Begründung beider in den Hintergrund tritt. Fast kann man von einer im Handeln begründeten versöhnten Verschiedenheit beider sprechen. Oder man mag an Dietrich Bonhoeffers viel zitierten Worte vom Mai 1944 erinnern: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“ Danach ist der das Gerechte tuende, jedoch nicht betende Camus in der Tat kein Christ, aber er kämpft Seite an Seite mit einem betenden Priester.

Der Pestbazillus stirbt niemals aus

Und dann noch diese Einsicht des skeptischen Doktor Rieux, mit der die „Pest“ endet und die leider allzu gut in unsere Gegenwart passt, in der nicht wenige trotz der Warnung von Virologen meinen, nach Corona könne das Leben so weitergehen wie zuvor: „Er wußte, daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet … und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.“