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Berlinale-Start mit Eröffnungsfilm “Small Things Like These”

Nach den Querelen um die Ein- und Ausladungen von AfD-Mitgliedern war die Eröffnungsgala der Berlinale einmal mehr politisch aufgeladen. Wozu auch der Eröffnungsfilm passte.

Politische Statements: Pheline Roggan und Papis Loveday bei der Eröffnung der 74. Berlinale (Archivbild)
Politische Statements: Pheline Roggan und Papis Loveday bei der Eröffnung der 74. Berlinale (Archivbild)Imago/ Eventpress

Augen abwenden ist in bestimmten Situationen keine Option. Das gilt in besonderem Maße fürs Kino, wo die Weigerung, unschöne Aspekte in den Blick zu nehmen, einem Scheitern der Seherfahrung gleichkäme. Das gilt aber auch für brennende aktuelle Fragen, von denen sich derzeit besonders viele anhäufen.

Wegschauen kommt für die 74. Berlinale schon allein deshalb nicht in Frage, weil sich an der Einladung von fünf AfD-Mitgliedern zur Eröffnungsgala so viel Kritik entzündet hatte, dass die Berlinale-Leitung die fünf ausdrücklich wieder auslud. Im Kontext der aktuellen Bürgerbewegung gegen Rechtsextremismus darf man an der politischen Tragweite dieser Geste durchaus zweifeln, doch sie war eine Steilvorlage für eine erneut stark politische Prägung der Eröffnungsgala.

Jury wurde zu politischen Statements gedrängt

So sah sich Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zu einer ausführlichen Erklärung genötigt, dass das Festival ein Ort für intensiven Dialog, aber keineswegs für Hass sei. Ähnlich äußerten sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU), die es nicht bei den Gefahren für die Demokratie durch rechte Parteien und Wähler beließen. Auch die Kriege gegen die Ukraine und Israel, die Unterdrückung der Bevölkerung im Iran und einiges mehr wurden als bedrückendes Hintergrundrauschen ausgemalt.

Immerhin geriet die Eröffnungsfeier nicht in eine ähnliche Schieflage wie die Pressekonferenz wenige Stunden zuvor. Dort waren die Mitglieder der internationalen Jury penetrant zu politischen Statements gedrängt worden; das Desinteresse an ihren Künstler-Persönlichkeiten lag am Rande der Peinlichkeit.

“Small Things Like These”: Nicht weg-, sondern hinsehen

Am Abend jedoch wurde bei allen politischen Stellungnahmen auch die Filmkunst nicht vergessen. Zum Glück – was auch am irisch-belgischen Eröffnungsfilm lag: “Small Things Like These” passte optimal zum Geist der Gala, da es darin explizit zu einer Frage der Moral wird, eben nicht weg-, sondern hinzusehen. Das Drama von Tim Mielants spielt in einer irischen Kleinstadt in den 1980er-Jahren, in der die bieder-genügsamen Bürger Missverhältnisse beschweigen und damit letztlich tolerieren. Das betrifft die Armut, die nachts schon mal einen kärglich bekleideten Jungen dazu treibt, eine für Katzen bereitgestellte Milchschale leer zu trinken, oder Alkoholiker, die insgeheim verachtet, aber als unbelehrbar hingenommen werden.

Vor allem aber werden in dem Ort systematisch Mädchen und junge Frauen misshandelt: Im lokalen Kloster gibt es eine der berüchtigten Magdalenen-Wäschereien. Dass die Insassinnen dort eingesperrt, zu harter Arbeit gezwungen und bei Widerstand brutal bestraft werden, ist den Städtern ebenso bekannt wie gleichgültig – schließlich sind die Eingesperrten unverheiratet schwanger geworden oder einer prüden Gesellschaft in anderer Weise als “lasterhaft” aufgestoßen.

 

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In den Bildern eines trüben irischen Winters und dumpf beleuchteter Wohnstuben betont “Small Things Like These” vielleicht etwas überdeutlich den Kontrast zwischen der fehlenden Empathie der meisten Stadtbewohner und der zeitlichen Verortung an Weihnachten. Bill Furlong scheint der Einzige zu sein, dem die Heuchelei zwischen der Botschaft von der Güte und der realen Tatenlosigkeit gegen den Strich geht.

Sparsame Prosa von Claire Keegan in eindrückliche Bilder übersetzt

“Small Things Like These” gelingt es an vielen Stellen, die pointierte, aber auch sehr sparsame Prosa von Claire Keegan kongenial in eindrückliche Bilder zu übersetzen. Wo frühere filmische und serielle Annäherungen an die erst in den 1990er-Jahren endgültig geschlossenen Ausbeuterstätten aus der Opferperspektive erzählt sind, stellt Mielants Romanadaption sich ihnen mit einem eigenen Zugang schlüssig an die Seite. Auch hier werden die Taten von Staat und Kirche verurteilt, die irische Gesellschaft daneben aber nicht aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Denn dass Bill Furlong in seinem moralischen Dilemma allein dasteht, ist die größte Schande dieser speziellen Geschichte. In diesem Fall ist Wegschauen nicht nur keine Option, es ist ein Verbrechen.