Die Bundesregierung geht bei einem potenziellen Zerfall der Ukraine offenbar davon aus, dass rund zehn Millionen Menschen zusätzlich das Land verlassen. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge würde in diesem Szenario nach Westeuropa aufbrechen, ein Zielland wäre Deutschland. Das erfuhr die “Welt am Sonntag” sowohl aus Sicherheitskreisen als auch von unterrichteten Parlamentariern. Das Bundesinnenministerium und die Bundespolizei teilten auf Anfrage mit, grundsätzlich keine Prognosen zur Entwicklung des Migrationsgeschehens abgeben zu wollen.
CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sieht Europa mehr denn je in der Verantwortung für die Ukraine. Die Unterstützerstaaten müssten die militärische Hilfe angesichts des aktuellen amerikanischen Zögerns jetzt deutlich erhöhen. “Wenn wir unsere Strategie bei der Ukraine-Unterstützung nicht ändern, wird das Worst-Case-Szenario einer Massenflucht aus der Ukraine und einer Ausweitung des Krieges auf Nato-Staaten sehr viel wahrscheinlicher. Dann sind zehn Millionen Flüchtlinge eher eine untere Annahme”, sagte Kiesewetter der Zeitung.
Migrationsforscher Gerald Knaus teilt diese Einschätzung: “Würde die Ukraine den Krieg verlieren, könnten auch viel mehr als zehn Millionen Flüchtlinge in die EU kommen. Es ist jetzt schon die größte Fluchtbewegung in Europa seit den 1940er Jahren.”
Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, warnt davor, dass die bisherige Unterstützung für die Ukraine nicht ausreichen könnte. Sollten die USA als Unterstützer weiterhin ausfallen, müsse Europa nachlegen. “Die EU sollte dann über eine gemeinsame Schuldenaufnahme nachdenken, um erstens den ukrainischen Haushalt und Wiederaufbau langfristig zu finanzieren, zweitens die europäische Rüstungsproduktion noch schneller hochzufahren und drittens Rüstungsgüter für die Ukraine, vor allem Munition, nicht nur in Europa, sondern auf dem Weltmarkt einzukaufen.”
Trotz der aktuellen Probleme in der Ukraine geht die Bundesregierung davon aus, dass das Land über die militärischen und finanziellen Mittel verfügt, um die Verteidigung und Stabilität bis Ende 2024 aufrechtzuerhalten. Sowohl deutsche Dienste als auch westliche Analysten halten große Frontdurchbrüche in diesem Jahr für unwahrscheinlich.