Die Mediatheken-Doku “Le Chaim! Auf das Leben unserer Eltern” erzählt so subtil wie kraftvoll, wie jüdische Schoah-Überlebende sich eine neue Heimat im Frankfurter Bahnhofsviertel aufbauten.
Was für ein ungewöhnlicher Titel: “Le Chaim! Auf das Leben unserer Eltern” lässt zunächst kaum erkennen, worum es in der neu in der ARD-Mediathek verfügbaren Doku geht.
“Le Chaim” ist Jiddisch für “Aufs Leben”. Das erschließt sich, wenn im Film eine gesellige Runde anstößt und sich – wechselnd zwischen Deutsch und (untertiteltem) Jiddisch – unterhält. In einer Bar im Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main. Schön allmählich – nicht mit dem Holzhammer zurechtgehauen, wie sonst oft im Doku-Fernsehen – erschließen sich hier komplexe Zusammenhänge.
Es geht um Juden, die die Schoah überlebt hatten und nach der Befreiung in Lagern für Displaced Persons (DP) lebten. “Der Plan war, man lebt”, sonst gab es keinen, sagt einer der Gesprächspartner, bei denen es sich meist um die inzwischen nicht mehr jungen Kinder dieser jüdischen Überlebenden handelt.
Nach der Auflösung der DP-Lager durch die Alliierten wollte etwa Abraham Rozenberg 1948 nach Israel in den Unabhängigkeitskrieg ziehen. Dann erfuhr er, dass sein Vater die Vernichtungslager ebenfalls überlebt hatte und in Friedberg in der Wetterau wartete. So landete der Sohn im nahen Frankfurt, wo er als Boxer und Eintracht Frankfurt-Mitglied sowie als Wirt im Bahnhofsviertel bekannt wurde.
Rozenberg starb 2013. Von seinem Leben und davon, dass er gerne im Ring Deutsche verprügelte, berichten sein Sohn und seine – nach den Dreharbeiten verstorbene – Frau Esther. Eine Tochter erzählt, wie ihr Vater als “fliegender Händler” Nylonstrümpfe und Kofferradios an “Bardamen” und GIs verkauft hatte.
US-Soldaten gaben rund um die Kaiserstraße jede Menge Geld aus. Ihre starke Präsenz bürgte aus jüdischer Sicht für Sicherheit. Den Schwarzmarkthandel kurbelten auch vor allem die Militärs an. Den Zwischenhandel mit deutschen Kunden übernahmen oft Juden, die schließlich “nichts mehr erschrecken” konnte.
So zeigt der Film sowohl wenig bekannte und ungemein wendungsreiche Biografien als auch Bildmaterial aus unterschiedlichen Epochen. Und die Gesprächspartner, die meist dort aufwuchsen, nehmen die Zuschauer mit durch das heutige, bekanntlich recht verrufene Bahnhofsviertel. Dem “Multikulti”-Anschein im Straßenbild fehle inzwischen genau eine Facette: die jüdische, sagt die Tochter des Straßenhändlers.
Vor den einst für die Neuankömmlinge errichteten Neubau-Wohnungen erfährt man, dass die Nachkriegsdeutschen sich oft abfällig über die Juden äußerten und auch wenig Kontakt suchten. In der Niddastraße schlug einst – griechisch-jüdisch geprägt – “das Herz der deutschen Pelzwirtschaft”, sagt einer. Dort sei der global höchste Umsatz gemacht wurden. Er habe nie gedacht, dass das mal aufhört. Heute zeigt sich davon kaum noch eine Spur.
Durch gut ausgewählte Stimmen und Ausschnitte verschränken sich so die Zeitebenen. In Rozenbergs Kneipe war oft auch Oskar Schindler zu Gast (der bekanntlich zu Lebzeiten von seinem “Schindlers Liste”-Nachruhm wenig ahnen konnte). In einem Fernseh-Ausschnitt aus den 1980ern taucht, sehr jung, der heutige TV-Promi Michel Friedman auf. Damals war die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde Frankfurts wieder auf über 5.000 gestiegen. Heute rangiert sie noch höher. Bevor sich das aber zur reinen Erfolgsgeschichte verklärt, wird eher beiläufig erwähnt, wie viel sich seit dem 7. Oktober wieder verändert hat. Inzwischen müssen Kinder wieder gewarnt werden, ihre jüdische Identität nach außen zu tragen.
Die Kraft, die es die Überlebenden gekostet haben muss, mitten in Deutschland mit nichts (und ohne viele ermordete Verwandte) wieder anzufangen, und die seinerzeit für niemanden ein großes Thema war, schwingt ohne große Worte mit.
Zugleich lässt die bemerkenswert subtile Doku ahnen, dass zwischen Epochen wie der inzwischen gründlich durchleuchteten Nazizeit, der Nachkriegszeit, in der Wiederaufbau und Verdrängung vorherrschten, und der ach so aufgeklärten Echtzeit-Gegenwart die Grenzen fließender waren und vermutlich weiterhin sind, als es in vielen Holzhammer-Dokus scheint.