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Aya kennt keinen Frieden

Der Libanon ist nach der Türkei das zweitgrößte Aufnahmeland für syrische Flüchtlinge. Das Kinderhilfswerk „ora“ ist eine der gemeinnützigen Organisationen, die sich für die Syrer im Libanon einsetzen. Eine Mitarbeiterin berichtet aus dem Flüchtlingslager

Sterzik

Aya ist ein Kriegskind. Nichts ändert das. Selbst wenn sie 90 Jahre alt wird, wird sie ihren Enkeln das erzählen. Schmerzlich wird uns das während unseres Besuches in den Flüchtlingslagern der libanesischen Bekaa-Ebene bewusst. Als „ora Kinderhilfe“ leisten wir dort seit anderthalb Jahren Flüchtlingshilfe. Monatlich versorgt das Hilfswerk über 1000 Familien mit Lebensmitteln, Decken, Öfen und Heizdiesel. Die mit einem lokalen Partner gebauten Notunterkünfte schützen vor Kälte und Regen – gegen das Gefühl der Angst und der Einsamkeit können sie nichts ausrichten. Aya eine unbeschwerte Kindheit schenken, können wir als Mitarbeiter eines christlichen Kinderhilfswerks leider ebenfalls nicht.
Als der Krieg in Syrien begann, war Aya zwei Jahre alt. Jetzt ist sie fast acht. An Frieden kann sie sich nicht erinnern. Als die Terroristen des Islamisches Staates (IS) ins Dorf kamen, stellten sie ihren Vater vor die Wahl: Entweder du kämpfst für uns oder wir vergewaltigen deine Frau. Ayas Vater zog in den Krieg. Fünf Jahre ist das her. Sie hat ihn nicht wieder gesehen. Die Mutter floh mit den drei Kindern zuerst in ein anderes syrisches Dorf, aber bald kamen die Kämpfe auch dorthin. Zusammen mit der Oma sind sie schließlich in den angrenzenden Libanon geflohen.

Geflüchtet aus der Heimat ohne Hab und Gut

Wie die meisten anderen Flüchtlinge ist die Familie nur mit dem, was sie auf dem Leib trug, in der Bekaa-Ebene gestrandet. In der fruchtbaren Gegend wurden in den vergangenen sechs Jahren unzählige Zelte aufgebaut. Mal in größeren Zeltstädten, mal in kleineren Verbünden stehen sie inmitten der Felder, auf denen weiterhin Ackerbau betrieben wird. Grotesk sieht das zuweilen aus. Einmal entdecken wir eine Unterkunft inmitten eines Olivenhains. Eine einfache Behausung aus Latten und Planen zwischen den Bäumen. Sie gehört Khalil und seiner Familie. Sie haben Glück gehabt. Der Bauer, dem das Land gehört, hat ihnen erlaubt, sich dort niederzulassen. Nicht einmal Miete müssen sie bezahlen. Das ist die absolute Ausnahme.
Bereits für wenige Quadratmeter Land verlangen die Bauern sonst zwischen 100 und 400 Dollar monatlich. Angeboten wird fast alles, was Wände und ein Dach hat. In alten Ställen, Scheunen und Garagen treffen wir Flüchtlingsfamilien. Ohne fließendes Wasser, Toilette oder Küche versuchen sie irgendwie über die Runden zu kommen.
Die Regierung hat den Zugang zum Arbeitsmarkt streng begrenzt. Viele Libanesen verdienen selbst kaum genug zum Leben, die meisten haben Schulden. Ein Kampf um die Arbeitsplätze ist entbrannt. Wenn man ohne Aufenthaltsgenehmigung beim Arbeiten erwischt wird, droht eine Gefängnisstrafe. Doch die Papiere, die alle paar Monate verlängert werden müssen, sind für die Flüchtlinge unerschwinglich. Sie leben von der Hand in den Mund, von humanitären Zuwendungen und von Schwarzarbeit.
Khalil verdingt sich als Fahrer. Mit seinem alten BMW ist er als Bote unterwegs. Mit dem, was ihm die Leute zustecken, versucht er seine sechsköpfige Familie durchzubringen. Die regelmäßigen Lebensmittelpakete und Dieselgutscheine der „ora Kinderhilfe“ helfen ihm dabei: „Es beschämt mich, aber ich brauche diese Hilfe“, sagt er und schaut zu Boden. Leise fügt er hinzu: „Schon erstaunlich, dass uns die Christen helfen.“ Für ihn als Moslem ist das verwunderlich.
Trotz des Krieges und der prekären Situation leben die syrischen Christen und Muslime streng getrennt. Die christlichen Flüchtlinge haben sich in die städtischen Bereiche zurückgezogen. Sie leben nicht in der Bekaa-Ebene. Dazu sind die Vorurteile auf beiden Seiten zu groß. Khalil ist dabei, seine Weltsicht zu überprüfen. Ihn berührt die Hilfsbereitschaft der Christen. Die Uneigennützigkeit hat ihn zum Nachdenken gebracht und er hat begonnen, eine Bilderbibel zu lesen. Manchmal betet er zu dem christlichen Gott, verrät er uns.
Das Land, das noch gezeichnet ist vom Bürgerkrieg 2006, ist mit der hohen Zahl Schutzbedürftiger überfordert – politisch, sozial und wirtschaftlich. Nach zweieinhalb Jahren ohne Präsident wurde Michel Aoun im Herbst 2016 im zweiten Wahlgang zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Bis heute gibt es kein Parlament.

Angst, dass es zuletzt für niemand zum Leben reicht

In der europäisch anmutenden Altstadt von Beirut, deren Fassaden an Paris erinnern, geraten wir in eine Demonstration. „Die sind hier an der Tagesordnung“, erklärt unser Guide. Jeden Tag gehen Menschen auf die Straße. Die Probleme des Landes sind riesig. Die Lebenshaltungskosten sind zu hoch, die Infrastruktur unterentwickelt, das Müllproblem weithin sicht- und riechbar und die medizinische Versorgung unzureichend. Trotzdem hat der Libanon in Relation zu seiner Bevölkerungszahl die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Die Schätzungen belaufen sich auf etwa 1,3 bei 4,5 Millionen Einwohnern. Letztere haben Angst, dass die Fremden bleiben und es dann für niemanden mehr zum Leben reicht.
„Wenn ich könnte, würde ich sofort nach Hause zurückkehren“, sagt Ahmad. Der einstige Gemüsehändler aus Homs lebt seit anderthalb Jahren in einem Zelt in Saadnayel. Lange haben er, seine Frau und die drei Kinder versucht, dem Krieg in Syrien zu trotzen. Sie wollten nicht weg. Aber als sie im Sommer 2015 zwischen die Fronten gerieten, hatten sie keine Wahl mehr. „Erst sind wir gerannt und später mit einem Bus über die Grenze in den Libanon gekommen“, berichtet Ahmad.
So wie ihm geht es den meisten syrischen Flüchtlingen. „Sie leiden unter den Folgen des Krieges, genauso wie unter dem Verlust ihrer Heimat“, erklärt Jochen Hackstein, Vorstand der „ora Kinderhilfe“. Ahmad träumt davon, dass es seinen Kindern einmal besser geht.

Trotz allem Leid hat Aya noch Träume

Auch die kleine Aya hat noch Träume. Sie hätte gerne ein Kleid und möchte regelmäßig die Schule besuchen. Aber beides scheint unmöglich. Nachdem ihre Mutter vier Jahre nichts von ihrem Mann gehört hatte, hat sie einen anderen geheiratet. Als muslimische Frau, die nicht arbeiten darf, muss sie versorgt sein. Der Stiefvater nimmt das Kind nicht an, weil es nicht von ihm gezeugt ist. Die Oma hat sich Ayas erbarmt. Beide leben nun zusammen in einem Zelt mit ungewisser Zukunft.
Die Mutter ist in ein anderes Flüchtlingslager zu ihrem Ehemann gezogen. Aya hat alles verloren: ihr Zuhause und ihre Familie – immerhin träumt sie noch.