Nach der Kurve müssen wir doch die Stadt erreicht haben. O nein – noch immer nicht. Ich bin hungrig, durstig und müde. Wie gerne würde ich jetzt zu Hause in der Hängematte liegen …
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich weiß, sie klingen eher nach quengelndem Kind. Bin ich aber nicht. Ich bin Pilger. Ein Pilger, der insgesamt rund 800 Kilometer vor sich hat. Ich bin auf dem Jakobsweg, der französischen Route.
Zu Fuß und mit Rucksack ein Land erkunden
Spontan sagte ich einige Monate zuvor meinem Studienkollegen Daniel zu. Ich wollte diesen Reisewunsch nicht unter „Das müsste man mal gemacht haben …“ ad acta legen. Mir imponierte die Vorstellung, per Pedes und mit einem Rucksack ein Land zu erkunden.
Während des Hinflugs paart sich frohe Erwartung mit ein wenig Unsicherheit: „Reichten ein acht Kilo schwerer Rucksack und ein Paar Turnschuhe aus, um Spanien zu Fuß zu erkunden? Würde ich vor Blasen überhaupt noch laufen können? Und bin ich mental für so einen Kraftakt gewappnet?“ Ich schiebe die Gedanken beiseite: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!
Da Glaube ja Berge versetzen kann, machen wir gleich auf unserer ersten Etappe durch die Pyrenäen das Exempel. Nach einer gestrengen Mahnung zur Vorsicht des deutschen Pilger-Helfers Helmut kraxeln wir über 1500 Höhenmeter. Statt wärmender Sonne begleiten uns kalter, durchnässender Regen und pfeifender Wind. Laut Handy zeigt in Deutschland das Thermometer an die 40 Grad an. Von wegen warm gemäßigtes Mittelmeerklima!
Allerlei Schnarchgeräusche kennengelernt
Unsere zweite Nacht verbringen wir in einem Refugium: Eine verhältnismäßig teure Hütte mit karger Ausstattung – aber mit einem Zweierzimmer, das wir als letzte erhalten. Die Letzten werden die Ersten sein. Ein Luxus, den wir danach nicht mehr erlebten. Ab da teilen wir unseren Schlafplatz mit 6, 20, 50 oder gar 100 Menschen. Ich kenne nun jegliche Schnarchgeräusche, -abfolgen und -lautstärken.
Neben dem typischen Tagesablauf – frühes Aufstehen zwischen sechs und sieben Uhr, Sachen einpacken, wandern, pausieren, ankommen, auspacken, duschen, ausruhen, Gegend erkunden – sorgen Land und Leute für Höhepunkte und schöne Erfahrungen.
Frei nach dem Pilger-Motto „Der Weg ist das Ziel“ durchqueren wir das wohlhabende Navarra mit seinen im Wind wogenden Weizenfeldern. Pamplona zeigt uns weder Stierhatz noch Stierkampf. Dafür wünscht man sich allerorts „Buen Camino“ – einen guten Weg. Diese Freundlichkeit macht Gedanken wie „Ich lege mich gleich an den Straßenrand und schlafe!“ viel erträglicher.
In der Weinanbaugegend La Rioja erstrecken sich vor uns kilometerweite Traubenfelder. Dass jeder Tag seine eigene Plage hat, erfahren wir besonders auf dem Weg durch Kastilien. Um die Schönheit und prachtvollen Kathedralen der beiden Königsstädte Burgos und Léon bewundern zu dürfen, müssen wir uns durch den heißen Staub der Hochebene Meseta quälen. Neben der flirrenden Hitze bietet die karge Einöde keinen Anhalts-, keinen Zielpunkt. Hier helfen nur Weiterlaufen, Wasser trinken und ein oder auch zwei Stoßgebete. Manchmal drängt sich der Gedanke auf, ob nicht Aufgeben eine gute Alternative wäre. Aber nein. Belohnung winkt.
Galicien, das letzte Drittel des Weges, schließe ich prompt ins Herz. In den saftig-grünen Wäldern und Hügeln, im Duft von würzigem Kuhdung, wohnen die kleinen Bauernschaften wie die Hobbits aus dem Film „Der Herr der Ringe“. Trotz ärmlicher Verhältnisse ist die Bevölkerung herzlich und spendabel und versorgt uns mit Obst und Riesenzwiebeln.
Viel Herzlichkeit und Freundlichkeit erlebt
Dann endlich: Santiago di Compostela. Die Stadt ist mit ihrem halbfertigen Dom, dem einladenden Gewusel in den Gassen und den köstlichen Tapas einen Besuch wert.
Doch zieht es uns noch weiter. Unser Ziel: Das Cap Finisterre, das Ende der alten Welt. Fernab der Touristen und prunkvollen Bauten verbringen wir noch ein paar Urlaubstage an der traumhaften Küste. Nun kommen auch Körper und Geist zur Ruhe.
Gott sei Dank – wir haben diese Pilgerreise unbeschadet überstanden. Staunen über Gottes Schöp-fung, die Kraft des eigenen Körpers und die Begegnungen mit anderen Menschen sind die immateriellen Schätze der Reise. Demut, Gelassenheit, Vertrauen und Zuversicht lehrte mich der Jakobsweg. Davon möchte ich ein wenig auf meinen Lebensweg mitnehmen.
Jan-Hendrik Hnida ist Student in Bielefeld und ehemaliger Praktikant von UK.