Für den englischen Dirigenten John Eliot Gardiner ist Johann Sebastian Bach (1685-1750) quasi eine Lebensaufgabe. Von Kindheit an ist er mit dessen Motetten vertraut, vor allem aber mit dem gestrengen Blick des Leipziger Thomaskantors. Denn das berühmte Porträt, das Bach mit weißer Perücke und einer Notenschrift in der Hand zeigt, hing im ersten Stock der alten Mühle in Dorset. Dort wuchs der heute 73-Jährige auf und musste abends auf dem Weg ins Bett stets an dem Bild vorbei. Wer es genauer betrachtet, sieht unter der Jacke das sich abzeichnende Bäuchlein des Komponisten.
Geistliche Musik fast wie Opern
„Das macht ihn menschlich“, sagt Gardiner. Überliefert sei, dass Bach gern gut gegessen sowie viel Bier und Wein genossen habe. Zugleich aber litt er, vor allem in Leipzig, unter bösen Kritiken und mangelnder Unterstützung von Kirchenleuten und Stadtverantwortlichen für seine Arbeit. Dieses und anderes hat der Dirigent, der bekannt ist für seine markanten Bach-Aufführungen, nun in einem bei Hanser erschienenen Buch zusammengetragen: „Bach. Musik für die Himmelsburg“.
Die etwas andere Biographie soll die Möglichkeit bieten, den Komponisten über sein Werk kennenzulernen. Der Autor will dem Leser vermitteln, was der Akt des Musizierens für Bach bedeutete, indem er ihn seine Erfahrungen und Empfindungen nacherleben lässt. Eine Oper hat er zwar nie geschrieben, doch seine Kantate „Jesus schläft, was soll ich hoffen?“ dürfte wohl die am „opernhafteste“ sein. So wie er den aufkommenden Sturm am See Genezareth in Noten packt, steht er Händelschen Barockopern in nichts nach.
Mehr als 1100 Werke hat Bach geschrieben, darunter 200 Kantaten. Als Thomaskantor war er nicht nur Lehrer, sondern angehalten, für jeden Sonntag eine neue Musik zum Evangelium zu komponieren. Diese musste er mit den Thomanern innerhalb einer Woche einstudieren. Genügte es nicht den Ansprüchen des Meisters, konnte es schon mal passieren, dass der Organist plötzlich dessen Arme auf seinen Schultern spürte, weil Bach selbst über ihn hinweg in die Tasten griff.
Das Kirchenjahr gab den Rahmen für die Kompositionen vor. Dazu orientierte sich Bach an den Jahreszeiten und an der Landwirtschaft. Er habe eine Sensibilität gegenüber der Umwelt gehabt, „die wir heute verloren haben“, bedauerte Gardiner, der selbst einen Öko-Bauernhof in seiner Heimat betreibt.
Doch es wäre ein Trugschluss zu glauben, die Leute damals seien sich bewusst gewesen, welch bedeutende Klänge sie Sonntag für Sonntag zu hören bekamen. Viele schliefen einfach ein. Um sie zum Zuhören erneut zu animieren, baute Bach deshalb bewusst Stellen zum Hochschrecken ein.
Doch in all seinem Schaffen ging es dem Künstler in erster Linie darum, Gott zu loben. Von seinem Glauben fiel Bach nie ab. Dabei hatte er als Neunjähriger beide Eltern verloren und von seinen 20 Kindern mit zwei Ehefrauen erreichten einige nicht das Erwachsenenalter. Der Tod war ein ständiger Begleiter für ihn, was in seiner Musik durchschimmert. Sie spende Trost, auch heute noch und auch jenen, die nicht gläubig seien, zeigte sich Gardiner überzeugt.
Frei von Glaubenszweifeln war allerdings selbst Bach nicht. Gut erkennbar sei dies in seiner h-Moll-Messe, führte der Dirigent aus. Als „gespenstisch“ bezeichnet er die Übergangsphase, die das „Confiteor“ mit dem „Et expecto“ verbinde. Die Urangst vor der Dunkelheit werde hier in Tonalität und Harmonik hörbar. „Bach lässt uns diese Angst spüren – weil sie ihm vermutlich selbst vertraut war und weil er wusste, wie man sie überwinden kann.“
Doch dann schlägt die Musik ins Freudige um. Es ist die Zuversicht, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern die Auferstehung naht.