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Arte zeigt surreales Drama um einen Gedächtnisverlust

Ein Mann verliert im Zuge einer rätselhaften Pandemie sein Gedächtnis. Fortan soll er seine Erlebnisse fotografisch festhalten, um eine neue Identität aufzubauen.

Auf die Frage, ob er sein Auto aus dem Weg fahren könnte, blickt der auf dem Bordstein sitzende Mann völlig entgeistert drein. Offensichtlich versteht er nicht ganz. Ein Auto besitze er nicht, so die wahnwitzige Antwort. Dabei hat er seinen Wagen gerade gegen die Hauswand gefahren und ist wie in Trance ausgestiegen. Ein Moment wie ein Augenschlag, vergangen und vergessen.

Diese Szene zu Beginn reduziert den unheimlichen Witz von “Apples” auf seine Essenz: Von einem Moment auf den anderen ist alles weg, der Faden gerissen, das Selbst ins Leere gestürzt. Das eigene Auto ist fremd geworden, der Ort ein Unort, ein Nirgendwo. Wie eine Pandemie breitet sich in Athen ein mysteriöser Gedächtnisverlust aus, der jede Erinnerung für immer löscht. Von einer Sekunde auf die andere wissen die Menschen nicht mehr, wer sie sind. Arte zeigt das Drama am 5. Dezember um 00.00 Uhr.

Auch Aris (Aris Servetalis) ereilt dieses Schicksal. Vom Busfahrer darauf aufmerksam gemacht, dass man bereits die Endstation erreicht habe, zeigt er sich irritiert. Wohin er eigentlich wollte und wo er wohnt, weiß er nicht mehr. Alles, was bleibt, ist das Hier und Jetzt. Es gibt zwar noch eine Bedeutung, aber keinen Sinn mehr. Polizei und Notarzt finden keinen Hinweis auf Aris’ Identität; er trägt keinen Ausweis bei sich. Also bleibt nichts anderes übrig, als ihn ins Krankenhaus zu bringen.

Die Tests verlaufen wenig vielversprechend, und Angehörige suchen auch nicht nach ihm. Aris wird zu einem Verlorenen, einem Menschen, der in der Gegenwart gestrandet ist. Die Ärzte schlagen deshalb ein neuartiges Integrationsprogramm vor: Aris soll seine Erinnerungen wieder mit Ereignissen auffüllen und sich eine Geschichte geben. Denn nur mit einer Geschichte gibt es etwas Kommendes, auf das es sich zu warten lohnt. Mit einer Polaroidkamera soll er sich ins Leben stürzen. Auf Hörkassetten erhält er Handlungsanweisungen.

Jede Aufgabe, die gelöst wurde, wird fotografisch festgehalten und in ein Fotoalbum geklebt. Diese Episoden sind surreal-lakonische Momente, denen immer auch eine Einsamkeit innewohnt: Aris ist allein und einsam. Lassen sich so Erinnerungen bauen?

Dann allerdings lernt Aris beim Besuch eines Horrorfilms im Kino die ebenfalls an ihren Erinnerungen arbeitende Anna (Sofia Georgovassili) kennen. Sie bittet ihn, ihr bei den Aufgaben behilflich zu sein. Zwischen den beiden Verlorenen entsteht eine Bindung; es bahnt sich eine Beziehung an. Dennoch bleibt ein kühler Abstand. Aris scheint eine Schwere mit sich herumzutragen, die er selbst kaum begreift. Oder will er nur ausweichen? Will er sich selbst vergessen?

Es ist diese fein austarierte Atmosphäre zwischen absurder Komik und abgründiger Tragik, die “Apples” so einzigartig macht. Jeder Witz berührt Trauer und Schmerz, und jede Verletzung ist auf dem Kipppunkt zur Pointe angesiedelt. Gerade weil Aris und Anna keine Tiefe zu besitzen scheinen – anscheinend gibt es nichts mehr, was sie als Personen ausmacht -, wirken die künstlich produzierten Handlungen wie lächerliche Turnübungen, die aber auch unseren alltäglichen Verrenkungen den Spiegel vorhalten. Gehe in eine Bar, betrinke dich und habe Sex mit einer Person auf der Toilette. Als ob das so einfach wäre wie eine bloße Aktion, vergleichbar dem Aufbau eines Regals; als läge die Magie solcher Eskapaden im bloßen Vollzug.

Das aber ist nur die halbe Drehung von “Apples”. In einer erstaunlich beiläufigen und dennoch ungemein tiefgründigen Szene soll sich Aris auf einer Kostümparty amüsieren. Verkleidet als Astronaut, in einem erstaunlich realistischen Kostüm, sieht man ihn vor einem Notarztwagen stehen. Der Sanitäter kümmert sich um eine Person, die offenbar ihr Gedächtnis verloren hat. Ob jemand Batman kenne, wird gefragt. Was für eine absurde Doppelung. Wer ist die Maske, und wo ist die wahre Identität? Ist Bruce Wayne nicht Batman und Batman …? Man verliert sich in einer endlosen Kette. Wer wird Aris also gewesen sein? Die Maske, die er sich mit Polaroid-Bildern ins Album klebt? Oder das, was irgendwo im Körper oder der Seele schlummert?

Aufgrund der kargen Versuchsanordnung von “Apples” ist man fast verleitet, den Ausdruck “kafkaesk” zu bemühen, nur um dann doch im Hoffnungsschimmer aufzugehen. Die Frage, die hier im Raum steht, dreht sich um den Zusammenhang von Leben und Rolle(n). Was bleibt, wenn wir die Erinnerungen für unser Selbst nachbauen?

Regisseur Christos Nikou webt überdies immer wieder Momente der Irritation mit ein, die leisen Zweifel säen. Aris scheint vergessen zu wollen. Als der Obsthändler von der positiven Wirkung von Äpfeln auf das Gedächtnis berichtet, werden fortan immer Orangen verspeist. Als der Hund des ehemaligen Nachbarn angelaufen kommt, ist plötzlich dessen Name bekannt.

Mit diesem Kniff verschiebt sich die existenzielle Farce ins Politische: Könnte der Grund dieser Pandemie nicht auch im sozialen Gewebe der Gesellschaft liegen, in der immer mehr Druck auf die Individuen abgewälzt wird und Menschen zunehmend auf eine Funktion reduziert werden?