Rund 150 Millionen Einwohner hat Russland, aber bis zum Frühjahr 2022 nur eine unabhängige Zeitung. Deren mutigen Herausgeber und Chefredakteur Demitri Muratow begleitet eine Arte-Dokumentation hautnah.
Zweifellos ist die Wahrheit ein kostbares Gut, und der Begriff wird in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht. Im Internet-Lexikon “Wikipedia” steht dazu: “Gemeinhin wird die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe als Wahrheit bezeichnet.” Mit deren besonderer Bedeutung im Journalismus beschäftigt sich ausgiebig die Arte-Dokumentation “Russland – Der Wahrheit verpflichtet” am 25. September um 20.15 Uhr.
Rund 150 Millionen Menschen leben in Russland, dennoch gab es dort lange nur noch eine einzige unabhängige Zeitung. Wer unbequeme Themen anspricht oder veröffentlicht, dem droht eine Verhaftung. Das hält die Journalisten der “Nowaja Gaseta” (Neue Zeitung) nicht von ihrer Arbeit ab. Sie stellen ihren Mut zur Wahrheit eindrucksvoll unter Beweis, wie der Film veranschaulicht. Allen voran kämpft Demitri Muratow, Journalist, Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der Zeitung. Der Londoner Filmjournalist Patrick Forbes hat ihn im vergangenen Jahr hautnah begleitet.
Als “offenherzig, prinzipientreu und mutig, sehr mutig” beschreibt der Regisseur seinen Freund Dmitry Muratow, auch Demir genannt. Schon Anfang der 2000er Jahre hatte Forbes eine Dokumentation über russische Oligarchen gedreht. Er erinnert sich: “Meine Recherchen ergaben, es gibt nur wenige, die das weltgrößte Land unter Kontrolle haben: Wladimir Putin und eine Handvoll unbeschreiblich reiche Leute. Ich habe verzweifelt nach einem gesucht, der mit mir redet, mir das alles erklären kann und, der mich nicht anlügt – das war Demir!”
Durch die lange Freundschaft zwischen dem Regisseur und dem Journalisten ist großes Vertrauen gewachsen. Von dieser besonderen Nähe profitiert der 85-minütige Film. Im Vorfeld hat Muratow seinem Kollegen Forbes nur eine einzige Bedingung gestellt: “Bring unser Leben nicht in Gefahr!” Schließlich deckte seine Zeitung in den vergangenen Jahrzehnten einen Skandal nach dem anderen auf.
Diese mutigen Recherchen forderten einen hohen Preis: Sechs Journalistinnen und Journalisten der “Nowaja Gaseta” wurden getötet. Ihre Schwarz-Weiß-Porträts thronen als eine Art Mahnmal über dem Tisch, an dem sich die Redaktion versammelt und an dem Muratow mit Forbes auch ein Video-Interview führt.
Muratow blickt auf bewegte Zeiten zurück. Am 1. April 1993 hatte er die “Nowaja Gaseta” gegründet – mit Unterstützung seines Freundes Michail Sergejewitsch Gorbatschow, dem früheren sowjetischen Präsidenten. Der Friedenspolitiker unterstützte die Zeitung mit Geld von seinem Friedensnobelpreis, der ihm 1990 verliehen worden war. 31 Jahre später wurde auch Muratow mit dem Friedensnobelpreis geehrt – für seinen Kampf für die Meinungs- und Pressefreiheit.
Im Gespräch verrät Muratow, dass er seine Medaille über das Kinderhilfswerk Unicef versteigern lassen wird, um den gesamten Erlös Geflüchteten der Ukraine zukommen zu lassen. Später erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer, wie der 61-jährige vom Erlös der Versteigerung erfährt.
Muratow arbeitet heute unter erschwerten Bedingungen. Angesichts der zunehmend angespannten Situation in Russland entschied er im März 2022, die Printausgabe seiner Zeitung vorläufig einzustellen. Inzwischen haben Gerichte ihm die Lizenz entzogen. Viele seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versuchen, im Exil von Riga aus mit der neu gegründeten digitalen “Novaja Gaseta Europe” Interessierten in Russland ungefilterte Informationen über die dortigen politischen Entscheidungen mitzuteilen.