Er gilt als der deutsche Spezialist für Myanmar und ist derzeit ein viel gefragter Gesprächspartner: Hans-Bernd Zöllner (Foto). Der 1942 in Lüneburg geborene evangelische Theologe und Südostasienwissenschaftler war unter anderem Pastor der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache in Thailand. Birma, das heutige Myanmar, kennt er von etwa 40 Reisen in das Land. 1998 promovierte Zöllner an der Universität Hamburg über die Wahrnehmung der zeitgnössischen Welt durch die birmanischen Unabhängigkeitsbewegungen. 2002 schied er aus dem kirchlichen Dienst aus. Zöllner ist Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Myanmar. Darunter ist auch eine politische Biographie der birmanischen Friedensnobelpreisträgerin und jetzigen Regierungschefin Aung San Suu Kyi, die er zusammen mit Rodion Ebbighausen verfassst hat („Die Tochter“, Horlemann Verlag, 19,90 Euro). Im Gespräch mit Annemarie Heibrock erklärt der Wissenschaftler die Hintergründe der Flucht der Rohingyas von Myanmar nach Bangladesch und sagt, welche Lösung des Konflikts für ihn die einzig denkbare ist.
Etwa 600 000 Angehörige der muslimischen Volksgruppe der Rohingyas sind von Myanmar, dem früheren Birma, ins benachbarte Bangladesch geflohen. Die Medien und die UN machen dafür Regierung, Militär und ultranationalistische Buddhisten verantwortlich. Die Vereinten Nationen sprechen von ethnischen Säuberungen. Zeigt der sonst für seine Friedensliebe bekannte und gerühmte Buddhismus hier seine hässliche Seite?
Der Buddhismus hat wie andere Religionen auch zwei Gesichter. Wir im Westen haben nur die gute Seite gesehen und dabei nicht wahrgenommen, dass es in den Ländern, in denen der Theravada-Buddhismus praktiziert wird, auch einen politischen Buddhismus gibt. Dazu gehören etwa Thailand, Kambodscha und eben auch Myanmar. Hier ist der Buddhismus die Nationalreligion und gleichzeitig Grundlage der politischen Ideologie. Eine Trennung von Staat und Kirche wie bei uns hat nicht stattgefunden. Von daher hatte der Buddhismus dort immer schon auch eine gewalttätige Seite.
Sie haben an anderer Stelle gesagt, dass sich die Mehrheit der Buddhisten in Myanmar darüber freut, dass jetzt so viele Muslime das Land verlassen.
Ja, denn die faktische Grundlage des Staates, der aus vielen verschiedenen Volksgruppen besteht, basiert auf einem buddhistischen Politikmodell. Birmane zu sein, heißt Buddhist zu sein. In Thailand ist das ebenso. Da geht es Muslimen in bestimmten Regionen auch schlecht. Das nehmen wir aber nicht wahr. Es hängt wesentlich mit der Bekanntheit der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi zusammen, dass die Medien in Myanmar hinschauen, in Thailand etwa aber nicht.
Das Bild, das die Medien transportieren, ist schwarz-weiß: Die Buddhisten – sie machen etwa 90 Prozent der Bevölkerung aus – sind die Täter, die Muslime (etwas mehr als vier Prozent) sind die Opfer. Stimmt dieses Bild so?
Die Sache ist natürlich komplexer. Hintergrund ist, dass sich die Buddhisten einer muslimischen Aggression ausgesetzt fühlen. In der Vergangenheit gab es bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern und Tätern auf beiden Seiten. Beide Seiten betrachten sich als die wahren Opfer in diesem Konflikt. Da gibt es Verschwörungstheorien und Ängste vor Überfremdung, zum Beispiel weil Muslime im Durchschnitt deutlich mehr Kinder bekommen. Und wenn Muslime Buddhistinnen heiraten, sind die Kinder nach dem islamischen Gesetz Muslime. Außerdem steckt weiterhin in den Köpfen der Buddhisten, dass die Hauptstadt Rangun im Jahr 1931 zu 62 Prozent von Indern bewohnt war. Es gibt also einen rationalen Kern für die Ängste und Bedrohungsgefühle der Buddhisten. Auf dieser Grundlage ist die Mehrheit unter ihnen tendenziell rassistisch. Das ist traurig, aber wahr. Es gibt tief sitzende Ressentiments. Und die sind mit rationalen Argumenten leider nicht auszuräumen.
Umgekehrt haben die Muslime vergleichbare Ängste gegenüber den Buddhisten, denn es hat ja in der Vergangenheit immer wieder Ausschreitungen und Pogrome gegen sie gegeben…
Ja. Die ersten antimuslimischen Pogrome fanden 1938 in Rangun statt. Interessanterweise in demselben Jahr, in dem in Deutschland die Synagogen brannten. Die Muslime wurden als Sündenböcke ausgeguckt und verantwortlich gemacht für viele Missstände, ebenso wie die Juden in Deutschland. Gleichzeitig waren die Pogrome in Myanmar ein Protest gegen die britischen Kolonialherren, die die anderen Volks- und Religionsgruppen ins Land geholt hatten, um die Birmanen kleinzuhalten. Das ist Jahrzehnte her, aber bis heute herrscht unter gebildeten Muslimen in Myanmar das Gefühl, genauso behandelt zu werden wie die Juden unter den Nazis.
Was war denn der Anlass für die aktuelle Eskalation?
Der Auslöser war ein Angriff von muslimischen Rebellen auf eine birmanische Polizeistation im August. Die Armee hat daraufhin natürlich zurückgeschlagen und das hat dann zu der Massenflucht geführt. Das passierte wohl nicht zufällig einen Tag bevor eine Kommission unter der Leitung des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan ihren Bericht vorstellte, auf dessen Grundlage eine Befriedung der Lage herbeigeführt werden sollte. Meine Theorie dazu ist, dass auf beiden Seiten das kollektive Bewusstsein herrscht: Dem Anderen ist alles zuzutrauen. Es gibt Auslöschungsphantasien bei den Buddhisten ebenso wie bei den Muslimen. Das heißt, Muslime machen sich spontan auf die Flucht, wenn ein Angriff der birmanischen Armee droht. Fluchtbewegungen wie wir sie aktuell sehen hat es schon Ende der 1970er und Anfang der 1990er Jahre gegeben. Jetzt sind aber zum ersten Mal Angriffe muslimischer Rebellen der Auslöser.
Die geflüchteten Rohingyas sind staatenlos. Wie kann man das erklären?
Die Grenzen des Landes sind von den Kolonialherren gesteckt worden. Bei der Unabhängigkeit 1948 wurde entschieden, dass all die Menschen als „natürliche“ Staatsbürger betrachtet werden, bei denen anzunehmen war, dass ihre Vorfahren schon 1823 im Land gelebt haben. 1823 war das Jahr vor dem ersten anglo-birmanischen Krieg. Alle, von denen man annahm, dass sie später gekommen waren, mussten besondere Anträge stellen. Die meisten Rohingya haben das nie getan oder konnten es nicht tun.
Als was fühlen sich diese Menschen? Was aber ist ihre Identität? Muslimisch? Muslimisch-birmanisch? Bengalisch, denn sie kommen ja aus Bangladesch?
Die Rohingyas fühlen sich als Opfer. Ob sie eine nachweisbare ethische Einheit sind, darüber streiten sich Ethnologen und Historiker. Meine Meinung ist, es ist eine konstruierte Identität, denn die Rohingyas, deren Namen ja in Myanmar nicht offiziell genannt wird – man nennt sie jetzt „Muslime in Rakhine“ -, sind keine organisierte Gemeinschaft. Es gibt zwar im Ausland lebende Sprecher und Interessenvertreter, die aber kann man wie die buddhistischen Hardliner-Mönche teilweise als Hassprediger bezeichnen. Sie tragen ihren Kampf auf dem Rücken der Menschen aus. Das Ganze ist eine Tragödie.
Wie ist die Rolle der Regierungschefin Aung San Suu Kyi in dem Konflikt zu verstehen? Die Friedensnobelpreisträgerin wird vom Westen ja inzwischen äußerst kritisch gesehen.
Auf Idealisierung folgt Entwertung. Das ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Sie ist ohne ihr Zutun und Kenntnis der genaueren Umstände im Westen zu einer Ikone stilisiert worden. Und nun verhalten sich ihre früheren Fans wie enttäuschte Liebhaber. Dafür kann Aung San Suu Kyi nichts. Das Problem liegt im Westen, wo weitgehend unbekannt ist, dass die buddhistische Vorstellung von Menschenrechten eine ganz andere ist als unsere.
Und welche Rolle spielen die Christen in Myanmar, die ja etwa sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen?
Ihre Rolle ist auch nicht gerade rühmlich. Sie sind zwar, anders als die Rohingyas, Staatsbürger, aber sie wollen so autonom sein wie eben möglich. Weit verbreitet ist unter der christlichen Volksgruppe der Kachin eine Haltung, die man als ethno-nationalistisch bezeichnet. Sie richtet sich gegen die buddhistische Mehrheit und ist massiv religiös-christlich untermalt.
Welche Perspektive haben die Rohingya – jetzt nach dem Abschluss des Rückführungsabkommens zwischen Bangladesch und Myanmar? Ist das eine vernünftige Lösung? Schließlich wissen die Rohingyas doch, dass sie in Myanmar nicht gut gelitten sind?
Ehrlicherweise muss man sagen, dass es auf absehbare Zeit keine wirklich gute Lösung geben kann. Der Konflikt ist so komplex und verfahren wie der Israel-Palästina-Konflikt. In Myanmar spielt sich eine historisch begründete Tragödie ab, die ihre Wurzeln in der Kolonialzeit hat. Alle Anstrengungen sollten zunächst dahin gehen, das Leiden der Betroffenen zu lindern und ihnen ein Minimum an Sicherheit zu geben. Forderungen nach einer Staatsbürgerschaft für die Rohingyas kann die Regierung von Myanmar nicht nachgeben, denn damit würde sie die Mehrheit ihrer Bevölkerung verprellen.
Und was nun?
Die einzige „Lösung“, die ich mir vorstellen kann, ist eine Schutzzone unter internationaler Aufsicht: zwei Drittel auf dem Gebiet von Myanmar, ein Drittel in Bangladesch – also genau in der Region, wo die Rohingya gelebt haben, als es die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen noch nicht gab. Beide Länder bräuchten dafür noch nicht einmal Land abzugeben, sondern es nur der UNO zu „verleihen“.
