Es ist unbekanntes Terrain, dass Südafrika nun betritt. Zum ersten Mal seit 1994 hat die langjährige Regierungspartei African National Congress (ANC) nicht die absolute Mehrheit erreicht. Die Parlamentswahlen haben damit bestätigt, was viele Hochrechnungen bereits vorhergesagt hatten: Mit nur 40 Prozent der Wählerstimmen für den ANC beginnt in dem Land am Kap eine neue Ära der Koalitionen. 30 Jahre lang war die ehemalige Befreiungsbewegung unangefochten an der Macht und führte das Land unter Nelson Mandela aus der Apartheid in die Demokratie. Die vergangenen zwei Jahrzehnte allerdings waren geprägt von Korruptionsskandalen, ausufernder Kriminalität und einer stagnierenden Wirtschaft.
Die Quittung zeigte sich am Sonntag auf der Webseite der südafrikanischen Wahlkommission, auf der die Auszählung live zu verfolgen war. Bereits am Mittag zeichnete sich bei Auszählung von 99 Prozent der Stimmen ab, dass der ANC mit 40 Prozent zwar die stärkste Partei bleibt, gefolgt von der größten Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) mit knapp 22 Prozent und der neu gegründeten Partei von Jacob Zuma, uMkhonto we Sizwe (MK), mit knapp 15 Prozent. Aber nun beginnt die holprige Phase der Koalitionsbildung.
Während die Abschluss-Wahlkampfveranstaltung des ANC in einem der größten Stadien Südafrikas noch unter dem Motto „Siyanqoba“ stattfand – ein Begriff aus der Zulu-Sprache für „erobern“ – war davon am Sonntag nicht mehr viel zu sehen.
Im Vorfeld hatte sich Präsident Cyril Ramaphosa unbekümmert präsentiert, mit einer Siegessicherheit, die an Arroganz grenzte. Während der Politiker nach den sogenannten „neun verlorenen Jahren“ unter Ex-Präsident Jacob Zuma anfangs noch bejubelt wurde, ist die Euphorie, die „Ramaphoria“, angesichts der harten Lebensrealität vieler Südafrikanerinnen und Südafrikaner verschwunden.
Ramaphosa war als „Aufräumer“ angetreten. Insbesondere unter der Präsidentschaft seines Vorgängers, Jacob Zuma, von 2009 bis 2018, wurden die Staatskassen systematisch geplündert. Die Ära, die in Südafrika gemeinhin als „State Capture“ bekannt ist, bezieht sich auf jahrelange Korruption und bedingungslose Ausbeutung der Staatsfinanzen durch Privatpersonen.
Heute aber sind die Wortspiele schier endlos: Ramafailure und Ramageddon sind nur einige, die in den vergangenen Jahren die Schlagzeilen geschmückt haben. Ramaphosa, so ist die allgemeine Wahrnehmung, hat nicht geliefert. Der Politiker wird weithin als schwach und entscheidungsunfähig wahrgenommen, als jemand, der die Lebensrealität der Menschen nicht kennt.
Anders dagegen sein Vorgänger Jacob Zuma. Der charismatische 82-Jährige schafft es, die Mengen für sich zu begeistern. Und auch dieses Mal schafft es der polarisierende Politiker, als großer Sieger aus dieser Wahl hervorzugehen. Obwohl Zuma aufgrund einer Vorstrafe von der Kandidatur für das Nationalparlament im letzten Moment vom Verfassungsgericht gesperrt wurde, ist er weiterhin das Gesicht der MK.
Dass seine Amtszeit leere Staatskassen hinterlassen hat, scheint vergessen. Denn Zuma weiß, wie man die Herzen gewinnt. Mit der Gründung der MK hat Zuma dem ANC erheblichen Schaden zugefügt. Angesichts der wechselhaften Geschichte zwischen Zuma und dem ANC, unter dessen Flagge er nicht zuletzt neun Jahre das Land leitete, wirkt die Gründung der MK wie ein persönlicher Rachefeldzug gegen seine alten Weggefährten aus dem ANC.
Es könnte gut sein, dass auf Ramaphosa nun Rücktrittsforderungen zukommen. Auch wenn der ANC nach wie vor die stärkste Partei des Landes ist, hat die ehemalige Befreiungsbewegung eine historische Wahlniederlage erlitten. Viele derer, die am Ende der Mandela-Partei noch ihre Stimme gaben, taten dies aus alten Loyalitätsgefühlen heraus – oder da die Partei wie „das kleinere Übel“ erschien. Die große Überzeugung, dass der ANC Lösungen liefert, ist verloren gegangen.