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Abschied von der sterbenden Mutter – ein persönlicher Bericht

Jesus starb am Kreuz und brachte damit unvergängliches Leben für die, die an ihn glauben. Davon, wie das Sterbende tröstet und die, die sie begleiten, erzählt unsere Autorin.

Nicht der Tod siegt, sondern das Leben: Das ist die Hoffnung, die Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung gebracht hat. Das Sterben aber bleibt ein Ringen.
Nicht der Tod siegt, sondern das Leben: Das ist die Hoffnung, die Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung gebracht hat. Das Sterben aber bleibt ein Ringen.epd / Werner Krüper

Ihr Atem rasselt. Bei jedem Luftzug dasselbe angsteinflößende Geräusch. Wie viel Kraft ein Atemzug kostet, wenn das Leben sich wehrt, ausgehaucht zu werden. Gott, wie lange soll das so gehen? Wie lange währt dieses Leiden? Warum muss es überhaupt sein, dass eine Frau, vom Glauben durchs Leben auf und ab getragen, so leiden muss, um hinüberwandern zu können? Kann dieser Kelch nicht an ihr vorübergehen? Luftnot, Leben in Not, Kreuz tragen bis zum Schluss. Hilflos sitze ich am Bett der Sterbenden. Alle meine Kraft verliert sich in dem rasselnden Atem.

Die Schwester kommt rein. „Bei manchen geht das drei Wochen so.“ Jetzt bleibt mir die Luft weg. Das kannst Du ihr nicht antun, Allmächtiger. Mach was. Jetzt. Bitte. Mein Blick fällt auf Vaters Kreuz, an dem Jesus seine Arme ausbreitet. Ich nahm es zu mir, als er starb. Bringen Sie ein Kreuz her, hatte mir eine andere Pflegekraft geraten, die mit Kirche nichts anfangen kann. Meine Mutter aber mag sie sehr. „Sie hat es doch so mit dem Glauben, vielleicht hilft ihr das loszulassen.“

Erlösung lässt sich nicht selber machen

Auf dem Heizkörper steht es, wo ihr Blick aus dem Bett hinfällt. Und weil sonst kein Platz ist in dem kleinen Heimzimmer zwischen Verbandsmaterial und letzten Habseligkeiten. Während Mutter vor Anstrengung einschläft, das Rasseln in einen gleichmäßigen Rhythmus wechselt, baue ich mich vor Jesus auf, ringe die Hände. Bitte tu etwas. Das kann sie nicht noch drei Wochen durchhalten. Erlöse sie. Erlösung lässt sich nicht selber machen. Ich gebe alles ab, lege am Kreuz in Jesu Hände, was passiert. Es geht nur durch den Tod ins Leben.

Jesus am Kreuz
Jesus am KreuzImago / Karina Hessland

Auf einmal fliegt das Fenster auf. Die Gardine am Fenster wirbelt durcheinander. Draußen prasselt ein plötzlicher Regenschauer auf die Blätter der Buche vor dem Seniorenheim. In diesem Moment schließt Mutter die Augen für immer. Kurz drückt sie noch einmal meine Hand, dann nimmt ihr Gesicht einen Ausdruck an, den ich bei ihr noch nicht kenne: Erhaben schaut sie, den Mund leicht geöffnet, wie eine Siegerin nach einem Lauf, der alles von ihr forderte. Sie hat das Leid und den Tod besiegt, denke ich. Nun ist sie darüber erhaben. Nicht der Tod hat gesiegt, sondern sie. Freude steigt in mir auf, obwohl ich doch weinen sollte! Jesus hat seinen Wagen geschickt.

Das hier ist ein Ort des Abschieds, aber ich fühle Freude

Eine Schwester vom ambulanten Hospizdienst Friedrichshagen, meine Freundin, die unsere Familie und Mutter begleitet, kommt sofort. Nur eine Stunde hat sie geschlafen, seit sie um Mitternacht wegging – in jener lauen Nacht, als die Menschen an diesem letzten Spätsommerabend draußen an den Kneipentischen feierten und ein Feuerwerk ertönte. Natürlich für unsere Mutter, dachten wir.

Ich sitze reglos am Bett bei meiner Mutter, streichele sie weiter, als wäre sie noch da. Vielleicht ist sie das auch. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das hier ist ein Ort des Abschieds, der Trauer, aber ich fühle Freude: Sie wurde erlöst, hat das Loslassen geschafft, konnte Frieden machen, sich beim Hinübergehen mitnehmen lassen. Engel – das Wort wiederholte sie mehrmals zuvor. Die Hospizschwester war sich sicher, dass Engel um ihr Bett stehen und sie hinübertragen.

Mit dem Duft von Dior in die Ewigkeit

Alle Handgriffe sitzen. Auch wenn sie mir zu schnell gehen. Zusammen mit der Hospizbegleiterin waschen wir Mutter und kleiden sie an mit ihren Festtagssachen. Mach bloß nichts falsch, denke ich, und sind es die richtigen Sachen? Hätte ihr das gefallen? Die Schwester verbindet die Wunden noch einmal. Schuhe müssen sein, damit Mutter auf dem Friedhof nicht friert.

Wir decken sie mit ihrer Lieblingsdecke zu. Ich träufele je einen Tropfen meines Parfums hinter ihre Ohren. Mit dem Duft von Dior in die Ewigkeit. Um sie herum legen wir das Bett mit Blumen, Blättern und Zweigen aus dem Garten aus. Wie eine Königin betten wir sie. Meine Königin Mutter. Die Schwestern und Pfleger stehen sichtlich gerührt schweigend im Zimmer, als sie zum Frühdienst kommen und Abschied nehmen. Einige sind auch am nächsten Tag bei der Aussegnung dabei.

Wo bist du, Mutter? Mit der Frage wache ich morgens auf

An den Händen gefasst bilden wir einen großen Kreis um das Bett unserer Mutter, die mit gefalteten Händen still in einem Blumenmeer liegt. Wir verabschieden sie mit einem Segen. Sie ist nicht mehr hier, denke ich, aber ihr Körper – und den haben wir auch geliebt, gehalten, gepflegt, gestreichelt.

Das Wort „Sarg“ ist unserer Autorin zu dunkel. Lieber spricht sie von einem „Holzhäuschen“
Das Wort „Sarg“ ist unserer Autorin zu dunkel. Lieber spricht sie von einem „Holzhäuschen“epd / Tim Wegner

Wo bist du, Mutter? Mit der Frage wache ich morgens auf. In ihrem Holzhäuschen, so nenne ich den Sarg, weil das Wort „Sarg“ so dunkle Gefühle in mir weckt und ich doch glaube, dass sie lebt, haben wir sie auf dem Evangelischen Friedhof in Friedrichshagen der Erde zurückgegeben. „Ich will bei unserem Vater mit hinein“, sagte sie oft. Den Wunsch erfüllten wir ihr. Als sie krank lag, war ich oft „bei ihm“ auf dem Friedhof, bat ihn, dass er jetzt für sie sorgt und einen guten Platz für sie vorbereitet. Bevor er starb, nahm er mir das Versprechen ab, mich um Mutter zu kümmern. „Nun musst du das übernehmen“, rufe ich ihm zu. Ich lese seinen Namen in goldener Schrift auf dem schwarzen Grabstein. Jetzt ist auch der meiner Mutter eingemeißelt: Anneliese.

Auf dem Friedhof ist Platz für Tränen

Viel lieber spazierte ich mit ihr auf unserer Bölsche. Meilenweit würde ich sie im Rollstuhl schieben, könnte ich sie noch einmal lachen hören! Hier auf dem Friedhof kann ich weinen, mich erinnern, all die Bilder hochkommen lassen aus den letzten Monaten. Ihren Schmerz, wenn wieder ein Verband entfernt und neu angelegt werden musste an den wundgelegenen Fersen. Jeden Tag neu.

Im Alltag nimmt mir die Arbeit die Luft zum Trauern. Auf dem Friedhof verlangt niemand von mir, dass ich wieder funktioniere. Sie ist doch schon einige Monate nicht mehr da. Immerhin war sie schon 90. Ein schönes Alter. Und es war eine Erlösung. Das höre ich oft. Ja, aber es ist auch ein Abschied für immer! Hier darf ich fühlen, was ich fühle. Ich darf dieses Fleckchen Erde jederzeit aufsuchen, ich weiß, dass sie nicht hier sind, aber sie sind doch da. Wie viele Menschen wissen nicht, wo ihre Lieben begraben sind. Und ich bete, dass sie dort angekommen ist, auf einer grünen Aue am frischen Wasser, wo Jesus, der selbst wundgeschlagene Stellen trägt, sie ins Vaterhaus geleitet hat.

Wir treffen uns wieder zum Hochzeitstag am 21. März

Ich sehe das Blumenmeer an, lese die Sprüche auf den Schleifen der Kränze: „Wir halten Dich in unserem Herzen“ … „Im Himmel singst du mit den Engeln weiter“. Am Ewigkeitssonntag haben wir vier Geschwister, Enkel und Urenkel die welken Blumen durch frisches Tannengrün getauscht. Wir schnippelten die Zweige zurecht, versuchten uns darin, alles so schön wie möglich zu drapieren, legten die Gestecke mal da und mal dorthin und stellten uns vor, ob das Mutter und Vater gefallen würde. Wenn nicht, machten wir den einen oder anderen Witz darüber. Und wir standen beieinander, hielten uns fest, erinnerten uns, wie jeder und auf seine und ihre Weise bei ihr war.

Beim Sterben helfen konnten wir nicht. Manchmal hätten wir es gern getan. Aber da sein durften wir, so gut es ging. Wie oft hielt sie unsere Hand mit schier unermesslicher Kraft fest. Als wollte sie wie Jesus sagen im Garten Gethsemane: Bleibt hier und wacht mit mir.

„So, jetzt habt ihr eine kuschlige Decke“, meint meine Schwester nach dem Abdecken der Gräber. Dann geht jeder von uns seiner Wege. Aber hier treffen wir uns bald wieder, zum Hochzeitstag am 21. März.