Artikel teilen:

68 Worte für die Liebe

2019 ist das UN-Jahr der indigenen Sprachen. 2680 von weltweit 4000 dieser Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Mexikos Ureinwohner kämpfen für ihre sprachliche Tradition

Wenn Mardonio Carballo seine Gedichte präsentiert, klingt das ungewöhnlich. Würde er die Reime nicht auch in Spanisch vortragen, verstünden ihn viele nicht. Denn der Dichter spricht Nahuatl, so wie er es von seinen Eltern gelernt hat. Geboren in Chicontepec, einem indigenen Dorf in der mexikanischen Provinz, hat Carballo seine Heimat früh verlassen. Die Mutter wollte das so. „Du schreibst, du liest, du arbeitest nicht auf dem Feld“, sagte sie und schickte ihn nach Mexiko-Stadt. Dort machte er Karriere: Heute ist er auch Journalist, Schauspieler und seit Kurzem auch Beauftragter für indigene Kulturen im Kultusministerium. „Was wir sind und was wir sein können“, erklärt der 44-Jährige, hänge von den Wörter ab, die wir sprächen. „Von unserer Sprache.“
Weltweit gibt es mindestens 370 Millionen Indigene wie die Inuit in Kanada oder die Maya in Mexiko. Sie sprechen 4000 Sprachen, von denen nach UN-Angaben 2680 vom Aussterben bedroht sind. Diese müssten als kulturelles Erbe der Menschheit erhalten und wieder mit neuem Leben gefüllt werden, fordern die Vereinten Nationen und haben 2019 zum „Jahr der indigenen Sprachen“ erklärt.
In Mexiko verständigen sich rund 1,5 Millionen Menschen wie Carballo in Nahuatl. Es ist die meist gesprochene indigene Sprache auf dem amerikanischen Kontinent. Doch die große Mehrheit der Ureinwohner lebt ärmlich in abgelegenen Dörfern oder gefährlichen Randbezirken der Städte – so wie zahlreiche Angehörige der 67 weiteren indigenen Völker des Landes. Drei von vier Mayas, Zapoteken oder Otomí sind arm. Viele der insgesamt 15,7 Millionen ursprünglichen Einwohner der Region werden diskriminiert.

Sprache der Ureinwohner wurde unterdrückt

Diese Ausgrenzung ging in Mexiko immer mit der Unterdrückung der Sprache einher. Doch hier stechen nicht, wie man denken könnte, die spanischen Kolonisatoren hervor. Nach 300 Jahren Kolonialherrschaft hätten zu Beginn des 19. Jahrhundert immerhin noch 65 bis 70 Prozent der Menschen ihre eigene Sprache gesprochen, erklärt die Linguistin Yásnaya Aguilar vom Mixe-Volk aus dem Bundesstaat Oaxaca: „Damals war Nahuatl die Umgangssprache.“
Die Sprachen seien vor allem nach der mexikanischen Revolution zurückgedrängt worden. Die Ureinwohner sollten Spanisch sprechen. Man wollte sie assimilieren und glaubte, sie so von ihrer „Rückschrittlichkeit“ zu befreien. Die Menschen seien mit Schlägen und anderen körperlichen Strafen gezwungen worden, Spanisch zu sprechen, sagt Yásnaya Aguilar. „Mir schlugen sie auf die Hände, wenn ich in der Schule in meiner Sprache redete“, erinnert sie sich. „Und weil niemand will, dass seine Kinder das erleiden, brachte man ihnen ihre Sprache erst gar nicht bei.“
Das änderte sich ab Mitte der 1990er Jahre. Es war die Zeit, in der das Zapatistische Befreiungsheer EZLN mit einem Aufstand im Bundesstaat Chiapas auf die verheerende Lage der Ureinwohner aufmerksam machte. Die rebellischen Tzeltal, Tzotzil und andere Völker traten selbstbewusst in ihrer Sprache an die Öffentlichkeit. „Die zapatistische Revolution half vielen, ihre Identität anzuerkennen“, sagt Dichter Carballo. Kurz zuvor war Mexiko zur „multikulturellen Nation“ erklärt worden, die zweisprachige Erziehung wurde eingeführt. Heute besitzt jeder Indigene das Recht, amtliche Unterlagen in seiner Muttersprache einzufordern. Die Regierung hat mehr als 60 der Sprachen sowie rund 360 Dialekte anerkannt.
Vor allem aber waren es die Nahua, Mixteken oder Zapoteken selbst, die ihrer sprachlichen Tradition wieder Geltung verschafften. Was man erreicht habe, sei kein Geschenk des Staates, betont Carballo. „Es war ein ständiger Kampf, in dem wir uns verteidigt und den wir gewonnen haben.“
Bis heute geht dieses Sprechen einher mit der Forderung nach einer stärkeren Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben – und mehr Selbstbewusstsein. „Wir versuchen, unsere Sprache wiederzubeleben und die Alten davon zu überzeugen, dass sie ihr Land nicht verkaufen, weil wir uns nicht mehr für unsere indigene Identität schämen“, erklärt etwa José Koyoc Ku vom Maya-Gemeinderadio Yúuyum auf der Halbinsel Yucatán.
Auf Kongressen sprechen indigene Vertreter in ihren Sprachen, Fernsehsender strahlen Beiträge in Maya aus. Auch der Internetbrowser Firefox hat 30 der traditionellen Sprachen übernommen. Dennoch seien sie zu noch wenig in den Medien präsent, kritisiert das Staatliche Institut für Indigene Sprachen (Inali). Obwohl die Zahl der indigen Sprechenden gewachsen sei, seien 51 Sprachen vom Aussterben bedroht, warnt die Behörde.
Die Journalistin Magdalena Gómez erinnert daran, dass dieses drohende Verschwinden nicht von dem Fakt getrennt werden könne, dass die indigenen Gemeinschaften zerstört würden – etwa durch die rücksichtslose Ausbeutung von Rohstoffen auf deren Land. „Die sogenannte Rettung der indigenen Sprache macht Sinn, wenn sie die Mitbestimmung der Völker und ihre Gemeinden zur Priorität macht“, schrieb sie mit Blick auf das UN-Jahr 2019.
Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador will sich stärker als seine Vorgänger für die Rechte der Ureinwohner einsetzen. Deshalb hat er zum Beispiel dafür gesorgt, dass sich Carballo in der Regierung um indigene Kulturen kümmert. Für den Dichter ist dies auch eine Chance, die Bedeutung von Sprache hervorzuheben. „In Mexiko gibt es 68 indigene Sprachen und damit 68 verschiedene Arten, das Wort ‚Liebe‘ zu sagen und 68 Formen, rebellisch zu sein“, erklärt er. „Deshalb klagen wir sie ein.“