An ihre Schulzeit denkt Tanja Gellermann mit Schaudern zurück. „Mir war es meist zu eng, zu laut und zu wuselig“, sagt die Münsteranerin. Auf den Lehrer am Pult konnte sie sich schwer konzentrieren, weil zu viel auf sie einströmte. „Permanentes Stühlerücken und Papierrascheln, der Geruch von Leberwurst aus einer Schultasche drei Reihen weiter vorne, die zwitschernden Vögeln vor dem Fenster“, erinnert sie sich. Rückzugsraum gab es nicht. Lange habe sie das Gefühl begleitet, „irgendwie anders“ zu sein. Seit vier Jahren ist sie sich sicher, das sie hochsensibel ist.
Menschen, die sich als hochsensibel bezeichnen, nehmen Sinneseindrücke sehr viel intensiver wahr als der Durchschnitt. Sie verfügten nicht über ein besseres Gehör oder schärfere Augen, bei ihnen laufe die Verarbeitung im Innern tiefer und ohne Filter ab, erklärt Psychologin Teresa Tillmann, die am Lehrstuhl Schulpädagogik der Ludwig-Maximilian-Universität München zum Thema forscht. „Störungen können sie nicht einfach ausschalten, da ist die Schwelle der Überreizung schnell überschritten.“
Geräusche werden lauter, Gerüche stärker empfunden. Ermattung und Überforderung sind die Folge, die sich in Rückzug und Schüchternheit ausdrücken oder – im Gegenteil – als Gefühlsausbruch entladen können. Das Phänomen, dass einige Menschen sensibler auf Reize reagieren, wurde zum ersten Mal von der US-Psychologin Elaine Aron benannt. Sie prägte 1996 den Begriff „Highly Sensitive Person“ (HSP). Aron schätzt die Zahl der Betroffenen auf über 20 Prozent der Bevölkerung.
Seitdem sind zig Ratgeber erschienen, im Internet finden sich Selbsttests für Hochsensibilität. In der empirischen Wissenschaft ist Arons Empfindsamkeitsthese jedoch umstritten. „Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen und muss durch zusätzliche Studien bestätigt werden“, sagt Tillmann.
Einige Studien zeigten unter anderem auf Grundlage von Messungen der Gehirnaktivitäten, dass Menschen, die sich als hochsensibel beschreiben, bei Betrachtung von Bildern auf viele Details achten und für die Reizverarbeitung mehr Zeit brauchen. Es gäbe auch Hinweise auf einen genetischen Ursprung.
Besuch in der Disco artete in Stress aus
Doch fehlten bislang einheitlich akzeptierte wissenschaftliche Kriterien, ab wann jemand als hochsensibel gilt. Auch sei nicht geklärt, ob es sich in der Bevölkerung um zwei unterschiedliche Gruppen von Menschen handelt, oder ob das Merkmal eher stetig verteilt ist, mal weniger, mal stärker ausgeprägt. Kritiker bemängelten, dass die Mehrheit der bisherigen Studien allein auf der Wahrnehmung der Betroffenen selbst beruhe, nicht auf objektiven Messungen. „Einige meinen deshalb, die These sei nur Entschuldigung dafür, in Zeiten der Digitalisierung nicht klarzukommen“, sagt Tillmann.
Der Dortmunder Rechtsanwalt Michael Jack kennt das Unverständnis anderer. Er habe lange unter einem hohen Anpassungsdruck gestanden, weil er als Teenager nicht wie die Freunde die Nächte durchfeiern konnte. „Es war mir nicht möglich, länger als 30 Minuten in einer Disco zu bleiben“, erinnert er sich. Viele Leute, beißendes Licht, wummernder Bass, Stress pur. Die Erkenntnis, dass er ein Nervensystem hat, das Reize weniger filtert, sei eine Erleichterung gewesen. 2007 gründete er einen Informations- und Forschungsverbund, um HSP-Studien in Deutschland zu vernetzen. Ein Hochsensibilitäts-Kongress findet am 30. Juni und 1. Juli in der Lüneburger Heide statt.