Als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel, war es der Beginn eines brutalen Vernichtungskrieges. Deutsche Truppen und Einsatzgruppen begingen millionenfach Morde an Zivilisten. Im Oktober 1944 dann war die Rote Armee auf dem Vormarsch nach Westen und begann ihre Großoffensive auf das damalige Ostpreußen. Als das Bundesarchiv 1974 die Erzählungen von Zeitzeugen über Kämpfe, Flucht und Gewalt erstmals wissenschaftlich erfasste, kamen die Forscher auf rund 3.300 Tatorte östlich von Oder und Neiße, an denen dabei deutsche Zivilisten von Sowjets ermordet wurden.
Besonders die Ereignisse im wenig mehr als 600 Bewohner zählenden Nemmersdorf (heute Majakowskoje) schrieben sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen, zumindest der aus dem Osten geflüchteten Menschen – obwohl fast keine historisch belastbaren Unterlagen existieren. Vor 80 Jahren, im Morgennebel des 21. Oktober 1944, erreichten sowjetische Soldaten die Nemmersdorfer Brücke über das Flüsschen Angerapp. Sie überrollten viele der aus dem Osten Flüchtenden mit ihren Panzern. Kurze, heftige Kämpfe gab es nur westlich des Ortes, bis sich die letzten deutschen Truppen zurückzogen.
Anderthalb Tage später gelang der Wehrmacht die kurzzeitige Rückeroberung des Ortes. Dabei stießen die Soldaten auf ermordete Dorfbewohner. Laut dem Bericht eines Feldpolizeisekretärs waren es 26 tote Zivilisten. Mehrere Frauen seien vergewaltigt worden. Sie seien vor einem Bunker und in verschiedenen Häusern und Höfen des Dorfes gefunden wurden.
Was genau während des kurzen Aufenthaltes der sowjetischen Soldaten geschah und wie hoch die Zahl der Toten tatsächlich war, ist allerdings bis heute nicht belegt. „Historische Dokumente über dieses Verbrechen gibt es so gut wie keine. Daher wissen wir noch immer viel zu wenig, was in Nemmersdorf tatsächlich passiert ist“, sagte der Historiker John Zimmermann dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch bei der Bewertung der Ereignisse auf der alleinigen Basis von Zeitzeugenberichten müsse man vorsichtig sein, so der Leiter des Fachbereichs Militärgeschichte bis 1945 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Sie könnten unter Eindruck der reißerischen NS-Propaganda entstanden sein.
Denn NS-Propagandaminister Joseph Goebbels nahm die Toten 1944 „zum Anlass einer großangelegten Presseaufklärung“, so zitiert der Historiker Guido Knopp aus dem Tagebuch des Ministers. Auch die „letzten harmlosen Zeitbetrachter“, so Goebbels, sollten überzeugt werden, „was das deutsche Volk zu erwarten hat, wenn der Bolschewismus tatsächlich vom Reich Besitz ergreift“.
„Tatsächlich werden erstmals seit 1939 deutsche Opfer gezielt für die deutsche Propaganda benutzt“, sagte Nils Köhler, Bereichsleiter beim Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Doch damit wird nicht wie geplant der unbedingte Durchhaltewille der Zivilbevölkerung gestärkt, im Gegenteil.“
Die drastischen Berichte und vermutlich zum Teil nachinszenierten Bilder des „Massakers von Nemmersdorf“ lösten in der Bevölkerung regelrecht Panik aus: „Aus dem ‘Rache für Nemmersdorf’, wie man überall propagierte, wurde ein ‘Rette sich, wer kann’“, sagt Köhler. Immer mehr Ostpreußen bereiteten ihre Flucht gen Westen vor. Die war ihnen lange verboten worden, um den Kampfgeist der Wehrmachtsoldaten zu stärken. Die verspätete Flucht habe zu vielen Tausenden Toten geführt, die hätten vermieden werden können, sagt Zimmermann. „Aber Menschenleben zählten nichts im untergehenden NS-Staat.“
Am 26. Oktober 1944 wurde den Chefredakteuren der großen Zeitungen von den NS-Propagandisten klargemacht, dass die vom Deutschen Nachrichtenbüro verfasste Meldung „über die grauenvollen bolschewistischen Verbrechen in Ostpreußen groß und wirkungsvoll herausgestellt und mit äußerster Schärfe kommentiert werden“ müsse. „Goebbels hat sofort erkannt, welche Möglichkeiten sich ihm bieten, hier einen propagandistischen Joker zu setzen. Auch deshalb wurden unmittelbar danach ausländische Journalisten nach Nemmersdorf gelassen, um aller Welt die grausamen Taten der Roten Armee vermeintlich authentisch vorzuführen. Das Echo in den Medien war gewaltig“, erklärt Zimmermann.
Das „12 Uhr Blatt der Berliner Zeitung“ titelte am 27. Oktober in leuchtend roten Lettern: „Bestialische Sowjet-Befehle“. Eine der weiteren Schlagzeilen: „Männer, Frauen und Kinder im ostpreußischen Ort Nemmersdorf abgeschlachtet“. Der „Völkische Beobachter“, das Parteiblatt der NSDAP, veröffentlichte am 27. Oktober einen Bericht, der die von den ersten Augenzeugen beschriebenen Geschehnisse noch „um Details ergänzte, die nirgendwo bezeugt worden waren“, schreibt Buchautor Bernhard Fisch.
Die einzige Überlebende in Nemmersdorf, Gerda Meczulat, erzählte später: Sie und 13 andere Bewohner hatten sich vor den angreifenden Russen in einen Behelfsbunker am Ortsausgang geflüchtet, so zitiert Autor Bernhard Fisch sie. Am Nachmittag seien sowjetische Soldaten in den Bunker gekommen, hätten zwar die Zivilisten durchsucht, aber auch mit den Kindern gespielt. Gegen Abend sei ein höherer Offizier erschienen und habe eine heftige Auseinandersetzung mit einem der Soldaten gehabt. Danach habe man die Zivilisten nach draußen befohlen und sie mit einem Kopfschuss getötet. Gerda Meczulat habe wie durch ein Wunder überlebt, weil der Schuss ihr Gehirn verfehlte.