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Zwangsmigration haben Millionen Deutsche am eigenen Leib erlebt

Millionen Deutsche mussten im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat im Osten verlassen. Wo sie ankamen, waren sie selten willkommen. Doch der Blick auf sie und auch ihr eigener wandelten sich mit der Zeit.

 Durch Flucht und Vertreibung haben etwa zwölf Millionen Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren. Es war eine der größten erzwungenen Bevölkerungsbewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa. Einiges, was auch heute die Stimmung und Politik im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten prägt, kennen die Vertriebenen noch aus eigenem Erleben. Dazu fünf Schlaglichter.

Den Begriff gab es 1945 noch nicht, er wäre auch unangebracht gewesen. Als Millionen Entwurzelte aus dem Osten in den vier Besatzungszonen der Alliierten untergebracht werden mussten, waren Quartiere knapp. In den vom Bombenkrieg zerstörten Städten nahmen Wohnungskommissare Beschlagnahmungen vor. Wo auch nur etwas Platz war, wurden einander wildfremde Menschen zusammengepfercht.

Das Verständnis der Einheimischen für die Neuankömmlinge hielt sich in Grenzen, auch angesichts eigener Nöte und Knappheiten. Die da ankamen, wurden nicht als Landsleute wahrgenommen, sondern als Fremde. “Geht doch dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid.” Nicht selten wurden Heimatvertriebene und Flüchtlinge mit solchen Worten empfangen. Und manche von ihnen mussten jahrelang in provisorischen Unterkünften ausharren, bis sie endlich in eigene vier Wände einziehen konnten.

Der Eindruck, dass den Flüchtlingen völlig zu Unrecht viel zu hohe Sozialleistungen zugewendet würden, war verbreitet. 1952 sorgte das Lastenausgleichsgesetz nach langen Diskussionen dafür, dass sie, neben Ausgebombten, Kriegerwitwen und Versehrten, vom Staat zumindest zum Teil entschädigt wurden.

Doch hartnäckig hielt sich in der westdeutschen Bevölkerung die Meinung, dass es dabei nicht gerecht zugegangen sei. Das illustriert folgender Witz, der damals kursierte: “Wie nennt man einen Menschen, der ein Haus hat? – Hausbesitzer. – Und wie einen, der ein Boot hat? – Bootsbesitzer. – Und wie nennt man einen, der eine Fabrik hat? – Fabrikbesitzer. – Wie aber nennt man einen, der alles drei hat? – Flüchtling.”

Die gelungene Integration von so vielen Menschen in ein Gemeinwesen zählt zu den Erfolgen der jungen Bundesrepublik. Sowjetdiktator Stalin hatte insgeheim gehofft, dass Westdeutschland dadurch destabilisiert würde. Lange wurde für diesen Erfolg das sogenannte Wirtschaftswunder verantwortlich gemacht, allerdings in seltsam abstrakter Form. Der Eigenanteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an diesem “Wunder” blieb unterbelichtet. Historische Forschungen zeigen indes, dass die Neuankömmlinge nicht nur über staatliche Transfers von Wohlstandsgewinnen der Westdeutschen profitierten.

In hohem Maße waren sie selbst als Unternehmer erfolgreich, wobei sie nicht selten innerhalb weniger Jahre die einheimische Konkurrenz überflügelten. Und das bei wesentlich schlechteren Startbedingungen. Ein Treiber war sicher der unbedingte Wille, sich eine neue Existenz aufzubauen. Improvisationsgeschick und Erfahrung mit Mangelwirtschaft, aber auch die Reaktivierung alter Geschäftskontakte und die Nutzung erworbener technischer Fertigkeiten beförderten den wirtschaftlichen Aufstieg.

Die erzwungene massenhafte Zuwanderung ließ sich nur teilweise steuern. Ohne dass dies beabsichtigt war, wirbelte sie die seit 300 Jahren nahezu geschlossenen konfessionellen Milieus hierzulande in kürzester Zeit durcheinander. In Bayern gab es schon 1950 keine rein katholische oder evangelische Gemeinde mehr; vor dem Krieg waren es noch 1.400 gewesen. Ermahnungen von Geistlichen beider Seiten an die Eltern, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder bloß keine sogenannte Mischehe eingingen, um nicht dem “religiösen Verderben” anheimzufallen, verhallten ungehört.

Bereits 1951 kamen bei den zivilen Eheschließungen auf 100 rein katholische Paare schon 64 gemischt-religiöse. Die Ökumene und damit die religiöse Toleranz in der Bundesrepublik erfuhr dadurch einen gewaltigen Schub. Bis 1970 gab auch die katholische Kirchenleitung ihren Widerstand auf und arrangierte sich mit den neuen Verhältnissen. Katholisch-evangelische Ehen, die zuvor in vielen Familien das Klima vergiftet hatten, wurden normal. Heute spricht man von “konfessionsverbindenden” Ehen.

Vertriebene hatten in Deutschland lange mit dem Ruf zu kämpfen, in rückwärtsgewandter Heimattümelei zu verharren und politisch reaktionäre Positionen zu vertreten. Dafür standen trotzige Parolen wie “Schlesien bleibt unser”. Übersehen wird, dass Organisationen wie die sogenannten Landsmannschaften nie das Mandat hatten, für alle Betroffenen zu sprechen. Wenig beachtet wurde auch, dass eine maßgeblich von Kirchenkreisen beeinflusste “Charta der Heimatvertriebenen” schon 1950 den Verzicht auf Rache und Vergeltung und das Ziel eines vereinigten Europas formulierte. Der Blick ging nach vorn.

Privat stellten Einzelne Kontakte in ihre frühere Heimat und zu deren aktuellen Bewohnern her. Aus einstigen Feinden wurden erst Nachbarn, dann Freunde. Vereinigungen wie die von Sudetendeutschen gegründete katholische Ackermann-Gemeinde starteten Hilfsaktionen für ihre von den Kommunisten bedrängten Glaubensgeschwister in der Tschechoslowakei. Der “Eiserne Vorhang” und auch eine rege geheimdienstliche Beobachtung konnten das nicht unterbinden. Heute hat die Ackermann-Gemeinde einen eigenen Ableger in Tschechien.