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Zurück zur Natur

Experten sind alarmiert: Kinder und Jugendliche haben kaum noch einen Bezug zur Natur. Grund genug für Eltern, mit ihrem Nachwuchs mal wieder öfter in Wald und Flur aufzubrechen

coldwaterman - Fotolia

Auf einem schmalen Pfad gehen Lea (8) und Mia (6) mit ihren Eltern zwischen dichten Büschen und Farnen durch den morgenstillen Wald. Wunderbar grün leuchten die Buchenblätter in der Sonne. Unter hohen Fichtenkronen geht es weiter bis zu einem Teich. Lange stehen sie am Ufer und beobachten die Wasser-oberfläche. Als ein Schwarm Fische ganz nah herankommt, jubeln sie vor Freude auf.

Problemlos Eichen und Buchen unterscheiden

Den Eltern von Mia und Lea ist es wichtig, dass ihre Kinder nicht entfremdet von der Natur aufwachsen.  Dabei kommt es ihnen nicht darauf an, abfragbares Natur-Wissen zu vermitteln. Vielmehr sollen die Mädchen den Wald mit ihren Sinnen wahrnehmen: spüren, wie sich Moos anfühlt, hören, wie Insekten summen, den Waldboden riechen, sich Himbeeren auf der Zunge zergehen lassen, auf einem Baumstamm die Balance halten.
Wo Kinder begeistert intuitive und gefühlsmäßige Erfahrungen in und mit der Natur machen, kommt das Wissen beinahe von selbst. Lea und Mia jedenfalls können problemlos Eichen, Birken und Buchen unterscheiden. Sie wissen, dass man Knoblauchrauke und Vogelmiere essen kann, dass der wunderschöne Fingerhut giftig ist, und sie kennen die Fährte eines Hasen.
Damit sind Lea und Mia inzwischen eine Ausnahme. Denn anders als frühere Generationen erleben Kinder heute die Natur kaum noch als selbstverständlichen Spiel-, Bewegungs- und Erfahrungsraum.Eine Emnid-Umfrage im Auftrag der Deutschen Wildtier Stiftung belegt eine Naturferne von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren. 49 Prozent in dieser Altersgruppe sind demnach noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert. 22 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass ihre Kinder „nie oder fast nie“ ein frei lebendes Tier zu Gesicht bekommen.
Einen Grund für diese Entwicklung sehen Experten in der Sorge der Eltern. Die heutige Elterngeneration ist oft ängstlich darauf bedacht, stets zu wissen, wo ihre Kinder sich aufhalten. Im Wald zu spielen, mit der Möglichkeit von Sonnenbrand, Mückenstich oder aufgeschlagenem Knien – das erscheint(über)besorgten Eltern oft als zu gefährlich. Auch Autor Richard Louv beobachtet, dass Kinder heute „weitgehend in einer denaturierten Umgebung“ leben. Sie spielen „lieber drinnen, wo es Steckdosen gibt“, wie Louv in seinem Buch „Das letzte Kind im Wald“ einen Jungen zitiert. Nicht selten sind Bewegungsmangel, Übergewicht oder motorische Unruhe und mangelnde Ausdauer die Folge.
Die Naturpädagogin Cordula Maier hat die Erfahrung gemacht, dass viele Kinder von der Reizüberflutung durch Fernsehen und Computer oder schwierigen Alltagsverhältnissen so überlastet sind, dass sie ständig nach neuen Reizen suchen. Unruhe, Hyperaktivität, Ablenkbarkeit, geringe Ausdauer oder Aggressivität verschwänden allerdings durch Naturerfahrungen nicht sofort. Naturerfahrungen brauchten Zeit und Wiederholung. „Nur dann entfaltet die Natur ihre nachhaltig heilende Wirkung.“ Cordula Maiers Kollegin Daniela Spieß schlägt vor, mit mehreren Familien gemeinsam aufzubrechen und vielleicht noch andere Kinder mitzunehmen.  
Immer wieder erlebt sie auch, wie sehr Kinder Picknicke im Wald lieben. So etwas müsse, so sagt sie, nicht aufwendig sein. Zur Vorspeise Gurke, als Hauptgang frisches Brot, Käse,  Würstchen oder Ei und rohes Gemüse, zur Nachspeise ein Apfel, ein Keks oder ein Stück Schokolade. Dazu Apfelschorle oder leckeren Tee. Eltern, die wissen, wann welche essbaren Wildkräuter, Blüten oder Beeren im Wald wachsen, können mit ihren Kindern Zutaten für ein einfaches Gericht sammeln, das zu Hause zubereitet wird.
Wichtig ist in jedem Fall, dass Kinder im Wald die Möglichkeit zur Bewegung bekommen. Sie müssen im Alltag schon genug still sitzen und leise sein. Der Wald bietet viele Möglichkeiten: Hügel rauf- und runterrennen, eine steile Böschung erklimmen, über einen Baumstamm balancieren. Die Jungen und Mädchen  können sich auch als Geräusch-Detektive ausprobieren: mit geschlossenen Augen im Wald stehen und lauschen. Gab es einen Moment, in dem es ganz still war? Wer hat wie viele unterschiedliche Geräusche gehört? Gab es merkwürdige Töne? Ein Smartphone mit Aufnahmefunktion hilft, Vogelstimmen zu Hause zu identifizieren.

„Waldforschertasche“ als Ausrüstung

Auch kleine Aufgaben fördern die Freude am Wald: Jeder sucht im Umfeld von hundert Metern etwas, was ihn erstaunt oder freut. Aus Zapfen und Zweigen lässt sich zu Hause ein Mobile basteln.
Die Freude daran, den Wald zu erkunden, kann eine „Waldforschertasche“ steigern. Enthalten könnte sie zum Beispiel eine Becherlupe, mit der kleine Pflanzenteile und Lebewesen betrachtet werden können, und je nach Alter Taschenmesser, Kompass, Taschenlampe, Trinkflasche, Bestimmungsbuch und einen Behälter für Gesammeltes. Solch eine Tasche eignet sich auch als Geburtstagsgeschenk. KNA

Buchtipps: Richard Louv: Das letzte Kind im Wald, Herder Verlag, 360 Seiten, 12,99 Euro; Andreas Weber: Mehr Matsch, Ullstein Verlag, 256 Seiten, 9,99 Euro; Joseph Cornell: Mit Cornell die Natur erleben, Verlag an der Ruhr, 341 Seiten, 21,95 Euro.