Seit diesem Wochenende erstrahlt Notre-Dame, eines der bekanntesten Wahrzeichen Frankreichs, in neuem Glanz. Doch die Kathedrale in der Hauptstadt Paris ist vor allem eines: ein religiöser Ort, ein riesiges Haus Gottes.
Frankreich ist ein Land der Kathedralen, mit immensen Kunst- und Kulturschätzen des europäischen Mittelalters. Paris ist die unangefochtene Hauptstadt Frankreichs, der “ältesten Tochter der Kirche”. Und Notre-Dame ist die unangefochtene Hauptkirche der Hauptstadt. Der Erzbischof von Paris, Laurent Ulrich, bringt die besondere Bedeutung des weltberühmten Gotteshauses so auf den Punkt: “Notre-Dame ist also sowohl ein nationales Erbe, Symbol der langen Geschichte Frankreichs, das lebendiges Gedächtnis unserer Nation, sie ist aber auch vor allem ein kirchliches Erbe, Zeichen der sichtbaren Gegenwart Gottes im Herzen der Stadt.” Was genau heißt das?
Notre-Dame ist die Kirche des Pariser Erzbischofs – daher der Titel “Kathedrale” vom Lateinischen cathedra für “Sitz” oder “Stuhl”. Vorgängerbauten auf der Île de la Cité, der Kernstadt auf der Seine-Insel, lassen sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen. Hier sind heute die wichtigsten Reliquien von Paris versammelt, darunter auch eine Dornenkrone und ein Kreuznagel, die traditionell als von der Kreuzigung Jesus Christi stammend verehrt werden.
Diese Reliquien waren allerdings nicht ursprünglich hier aufbewahrt. Eigens für sie und für die sogenannte Cappa, den (verschollenen) Mantel des heiligen Martin, war am nahe gelegenen einstigen Königspalast die 1248 geweihte “Sainte-Chapelle” (“Kapelle” für Ort der Cappa) geschaffen worden; ein lichtdurchfluteter Höhepunkt der europäischen Hochgotik. Später kamen die Kreuzreliquien hinüber in die Kathedrale – unter Verschluss. In napoleonischer Zeit erhielten sie goldene Behälter.
Wohlgemerkt ist Notre-Dame nicht die christliche Keimzelle von Paris; das ist der Montmartre. An diesem “Hügel der Märtyrer” soll um 250 der Stadtpatron Bischof Dionysius (frz. Saint-Denis) auf seinem Richtplatz sein abgeschlagenes Haupt genommen und damit sechs Kilometer nach Norden gegangen sein. Wo er sich schließlich niederlegte, steht heute die Basilika Saint-Denis, Grablege der französischen Könige und erstes Beispiel der französischen Gotik.
Der Neubau der Kathedrale Notre-Dame wurde 1163 begonnen. Schon 1182 war der Chor fertiggestellt, danach folgten das Hauptschiff sowie die Westfassade (1225) und die Türme (1250). Das monumentale Kircheninnere mit fünf Schiffen ist rund 130 Meter lang und 33 Meter hoch. Die beiden Türme der Fassade erreichen 69 Meter Höhe, der beim Brand 2019 zerstörte und nun wiedererrichtete hölzerne Vierungsturm aus dem 19. Jahrhundert 96 Meter.
Mit den Jahrhunderten verlagerte sich das religiöse Herz der Nation immer stärker nach Notre-Dame – so wie das politische Herz mit der Rückkehr des Königshofes von der Loire Ende des 16. Jahrhunderts fortan in Paris schlug. Die Kathedrale ist bis heute Referenzpunkt für die Entfernungsmessung im gesamten Land.
1455 wurde der Revisionsprozess um Johanna von Orleans in Notre-Dame eröffnet. 1572, mitten in der heikelsten Phase der Religionskriege, fand hier die Trauung des künftigen Königs Heinrich IV. statt (“Paris ist eine Messe wert”) – allerdings nur im Portal der Kirche, da der reformierte Bräutigam die katholische Kathedrale nicht betreten wollte. Die Brautmesse wurde anschließend ohne ihn gefeiert. 1643 wurden die Eingeweide König Ludwigs XIII., 1715 die des “Sonnenkönigs” Ludwigs XIV. in der Kathedrale beigesetzt.
Wie so viele Kirchen in Frankreich erfuhr Notre-Dame während der Revolution tiefste Demütigung. Zunächst als revolutionärer “Tempel des Höchsten Wesens”, entweiht, wurde sie später zum Weinlager. Erst Napoleon ordnete 1802 wieder eine Nutzung für den Gottesdienst an – und krönte sich hier im Dezember 1804 in Anwesenheit von Papst Pius VII. selbst zum Französischen Kaiser.
Victor Hugos Roman “Der Glöckner von Notre-Dame” (1831) machte das verfallende Gotteshaus dann zum Gegenstand romantischer Verklärung. Intensive Instandsetzungen unter dem Meister der französischen Restauratoren Eugène Viollet-le-Duc (1814-1879) folgten. Auch wenn das religiöse Leben der Franzosen inzwischen mehr und mehr darniederliegt: Den verklärten Nimbus als “Herz”, “Symbol” oder “Kristallisationsort” hat die Pariser Kathedrale bis heute behalten.