Manche Gedanken sind so universell und zeitlos, dass sie jederzeit Menschen berühren. Das trifft auch auf jene von Johannes Scheffler zu. Eine Schrift des schlesisches Mystikers zählt noch immer zur Weltliteratur.
“Mensch, werde wesentlich”; “Halt an, wo läufst du hin – der Himmel ist in dir!”; “Und wäre Christus tausend mal in Bethlehem geboren, nicht aber in dir: Du bliebst doch ich alle Ewigkeit verloren.”; “Die Rose ist ohne Warum. Sie blühet, weil sie blühet. Sie achtet nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.” – Diese Gedanken finden sich in vielen Aphorismensammlungen und sprechen Menschen noch immer an. Dabei lebte ihr Verfasser, der schlesische Dichter und Mystiker Johannes Scheffler, bereits im 17. Jahrhundert. Vor 400 Jahren, am 25. Dezember 1624, wird er – mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges – in Breslau geboren.
Auch die Pest, Machtkämpfe zwischen katholischer und evangelischer Kirche, Aberglaube, Magie und Hexenwahn sorgen in der Schefflers Kindheit für Unsicherheit und Unruhe. Mit 14 ist der Arztsohn bereits Vollwaise. Ein Vormund schickt ihn in Breslau auf ein protestantisches Gymnasium, wo sich schon bald sein lyrisches Talent zeigt.
Scheffler studiert in Straßburg, Leiden und Padua Medizin und Philosophie. In Leiden kommt er über religiöse Kreise in Kontakt mit mystischem Gedankengut jenseits des Kirchenglaubens, etwa von Jakob Böhme. Nach Abschluss seines Studiums kehrt er zurück in seine schlesische Heimat und wird Leibarzt eines strenggläubigen lutheranischen Herzogs.
Scheffler freundet sich dort mit dem Mystiker und Böhme-Schüler Abraham von Franckenberg an, taucht immer mehr in die Welt der mystischen Spiritualität ein, in der seine persönliche Identität vorübergehend im göttlichen Sein aufzugehen scheint. Er erlebt das Verschmelzen der Seele mit Gott, “ich bin nicht außer Gott, und Gott ist nicht außer mir”. Sein in Worten kaum fassbares Erlebendie unmittelbare Gotteserkenntnis und sein – in der Tradition der Mystiker – paradoxes Gottesbild fasst er in poetische Umschreibungen, die ihm leicht von der Hand gehen. “Die Verse sind mir meistenteils ohne Vorbedacht und mühsames Nachsinnen in kurzer Zeit von dem Ursprung alles Guten eingegeben worden.”
1657 bringt er sie als “geistreiche Sinn- und Schlussreime” heraus. Er bezieht sich dabei auch auf Vorbilder wie Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg und Johannes vom KreuzUnter dem Titel “Der Cherubinische Wandersmann” werden sie bald zum Highlight der Barocklyrik – und gehören noch immer zur Weltliteratur.
Damals stoßen Schefflers Verse indes auf ein geteiltes Echo. Kirchenfrommen Lutheranern erscheinen sie als ketzerische Blasphemie, auch weil die eigene unmittelbare Gotteserfahrung wichtiger scheint als der dogmatische Kirchenglaube und seine Rituale. Andere Menschen erleben sie als visionäre Durchdringung der kosmischen Verbindung von Gott, Mensch und Welt.
Nach dem “Cherubinischen Wandersmann” möchte Scheffler weitere mystische Texte und Gedichte veröffentlichen; doch die Schrift wird verboten. Nach protestantischer Zensur tritt der Dichter und Mystiker 1653 deshalb zur katholischen Kirche über. In den Katholizismus projiziert er auch seine Sehnsucht nach mystischer Innigkeit, die ihm im Protestantismus fehlt. Fortan schreibt er unter dem Pseudonym Angelus Silesius – “der schlesische Bote” oder “schlesischer Engel”. Zudem studiert er katholische Theologie und empfängt im Alter von 36 Jahren sogar die Priesterweihe.
Scheffler engagiert sich in der schlesischen Gegenreformation, vermacht einen Teil seines Vermögens kirchlichen Einrichtungen. Zugleich mutiert er zunehmend zum katholischen Eiferer. Er veröffentlicht theologische Streitschriften und polemisiert mit allen Mitteln gegen den Protestantismus. Schließlich zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück und lebt ab 1668 ein asketisches Leben in einem Kloster, wo er sich um Arme und Kranke kümmert. Neun Jahre später stirbt er, vom entbehrungsreichen Leben aufgezehrt, an der Schwindsucht.
Seine Gedanken aber sprechen bis heute Menschen an – gerade jene, die außerhalb der Kirche und ihrer Rituale eine Verbindung zu Gott suchen. Der katholische Theologe Karl Rahner hat damit kein Problem. Er schrieb schon 1966: “Der Fromme von morgen wird ein ‘Mystiker’ sein, einer, der etwas ‘erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.”