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Zu Unrecht aus der Bahn geworfen

Kaum eine halbe Stunde dauert die mündliche Verhandlung im Saal 318 des Mainzer Landgerichts. Dann ergeht ein Urteil, das das Leben der Gerichtsmedizinerin Bianca Navarro wieder ein wenig ins Lot bringen könnte. „Endlich, endlich, endlich“, kommentiert sie die Entscheidung, während sie mit den Tränen kämpft. Jahre, nachdem ein vermeintliches Fehlgutachten die Karriere der einst bundesweit anerkannten Expertin für Kindesmisshandlung abrupt beendete, hat sie es nun schwarz auf weiß: Ihre Einschätzung in einem über zehn Jahre zurückliegenden Verdachtsfall war fachlich wohl doch nicht zu beanstanden.

„Ich habe nie an ihr gezweifelt“, sagt Navarros Verteidigerin Karin Schwall. In ihrem Berufsleben habe sie mit vielen Ärzten zu tun gehabt, deren Fehler zum Teil Menschenleben gekostet hätten, berichtet die Koblenzer Fachanwältin für Medizinrecht. „Aber ich habe nie erlebt, dass jemand das so bitter bezahlt hat.“

Eigentlich war der Fall, der im November 2023 eine so dramatische Wende nimmt, schon vor über sieben Jahren abgeschlossen. Das Oberlandesgericht Koblenz hatte der einst mit dem rheinland-pfälzischen Kinderschutzpreis ausgezeichneten Ärztin grobe Fahrlässigkeit bescheinigt, nachdem das Jugendamt 2013 auf ihre Veranlassung hin einem Paar aus dem Rhein-Pfalz-Kreis vorübergehend die Kinder entzogen hatte. Navarro hatte festgestellt, dass der nach einem Verkehrsunfall diagnostizierte Gehirnschaden bei einem der Kleinkinder „höchstwahrscheinlich“ durch Schütteltraumata verursacht worden sei. Mehrere Monate später konnten die Eltern Belege vorweisen, denen zufolge eine Erbkrankheit Ursache für die Probleme gewesen sei.

Später einigte sich der Kreis außergerichtlich mit der Familie auf Schadenersatz und Schmerzensgeld. Die Haftpflichtversicherung der Kommune wollte Navarro dafür bereits vor Jahren in Regress nehmen – ein Betrag von 107.000 Euro stand im Raum.

Diese Regressklage sei letztlich ihre Rettung gewesen, sagt Navarro heute. Denn vor einer Entscheidung in der Sache hatte die Zivilkammer des Mainzer Landgerichts ein weiteres Gutachten zu dem Fall angeordnet. Den Mainzer Richtern hatte missfallen, dass nicht ein Rechtsmediziner, sondern ein Facharzt für Neuropädiatrie Navarro die grobe Fahrlässigkeit bescheinigt hatte. Die Suche nach einem geeigneten weiteren Gutachter zog sich in die Lage – denn das Gericht wollte eine mögliche Befangenheit ausschließen. Und es gab nur wenige Experten, die nicht mit der bekannten Mainzer Ärztin persönlich bekannt waren. Nachdem die Coronavirus-Krise für weitere Verzögerungen gesorgt hatte, lag das Ergebnis erst 2023 vor: In der Sache sei Navarros Einschätzung korrekt gewesen. Das Jugendamt hätte die Kinder aus der Familie nehmen müssen.

In Mainz hatte die Rechtsmedizinerin einst eine bundesweit beachtete Ambulanz für Kinder aufgebaut, die möglicherweise Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Nach dem Verfahren vor dem Koblenzer Oberlandesgericht wurde sie von der Boulevard-Presse als „Schlampig-Gutachterin“ betitelt, die Mainzer Universitätsmedizin setzte sie vor die Tür. Auch ansonsten bekam die einst bundesweite angefragte Gutachterin angesichts der Zweifel an ihrer Qualifikation kaum noch Aufträge. Zudem habe sie Morddrohungen erhalten, ihre Kinder seien zeitweise mit Polizeibegleitung von der Schule abgeholt worden.

Was tatsächlich im Jahr 2013 in der Familie im Rhein-Pfalz-Kreis geschehen ist, werde sich strafrechtlich wohl nicht mehr zu 100 Prozent klären lassen, vermutet Navarro. Sie wolle dennoch dazu beitragen, dass der Junge zumindest als Opfer einer Straftat anerkannt werde. Damit hätte er Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz.