Am 16. Juni 1953 wollten mein Studienfreund und ich mittags zum Dom. Dort befanden sich die Seminar- und Bibliotheksräume der Fakultät. Am Zeughaus vorbeilaufend stutzten wir: Quer über den Marx-Engels-Platz kam uns eine Kolonne Arbeiter entgegen. Wieder eine Demo? „Mensch“, rief ich plötzlich, „die haben gar keine Fahnen, nur ein einziges Transparent – und das hellblau!“ Dann stieß ich „Schnippi“ heftig in die Seite: „Weißt du, was darauf steht?“ – „Wir fordern Normsenkung!“ Das war ein Ding!
„Walter“ erschien nicht
Der vorbeiziehende Tross nahm uns in seinen Sog. Die Staatsoper war damals Großbaustelle. Die Bauarbeiter, die von der Stalinallee gekommen waren, hielten kurz dort an und pfiffen. So schnell sah ich noch nie eine Baustelle leer werden. Etwa 1000 Bauarbeiter reihten sich in den Zug ein, der weitermarschierte. „Wir wollen Walter sehen“, skandierten sie laut. Gemeint war der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Er war entweder nicht da oder bereits geflüchtet. Fritz Selbmann trat auf den Balkon, Minister für Schwerindustrie, Bergbau und Energie. „Fritz!“, schrien sie. „Geh mal wieder rein, wir wollen Walter sehen!“ Der erschien nicht.
Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die Volkspolizei einige Leute festgenommen und ins Präsidium am Alex „verbracht“ hatte. Die vielen Männer setzten sich wieder in Bewegung, zurück über Unter den Linden, dann die Friedrichstraße entlang nach Norden. Ein paar Plünderer, die Schaufensterscheiben eingeschlagen und versucht hatten, sich zu bedienen, wurden verprügelt und weggejagt. Schließlich bog der Zug in die Wilhelm-Pieck-Straße ein.
„Lasst unsere verhafteten Kollegen frei!“
Am Rosenthaler Platz versperrte die Polizei mit einem Lautsprecherwagen den Weg. „Auseinandergehen!“, dröhnte der Lautsprecher. Die Arbeiter umringten das Fahrzeug, hoben es an und vermittelten den Insasssen das Gefühl, bei Sturm auf hoher See zu sein. Sie holten die Polizisten heraus, besetzten selbst das Fahrzeug und fuhren an der Spitze des Zuges zum Polizeipräsidium. Dort kam aus dem Lautsprecher nun die Forderung: „Lasst unsere verhafteten Kollegen frei!“
Am nächsten Morgen, am 17. Juni, sagte der Schaffner in der Straßenbahn auf dem Weg zur Uni: „Det ist unse letzte Fahrt, Jeneralstreik!“ Da merkte ich, dass etwas Großes, Unbekanntes in der Luft lag. Die „70“ hielt schon weit vor der Uni, in der Friedrichstraße an der U-Bahn-Station Oranienburger Straße. Da stand Bahn an Bahn bis zur Endstation Am Kupfergraben. Die Menschen strömten in Richtung Unter den Linden, ich auch. Unter dem Bahnhof Friedrichstraße hörte ich oben die Lautsprecherdurchsage: „Werte Reisende, steigen Sie bitte aus, der Zugverkehr ist ab sofort eingestellt.“ Niemand regte sich auf.
Fast die Uni gestürmt
Ich ging zur Uni, nur wenige Leute waren dort. Ich traf zwei Kommilitonen. Sie schauten nach vorn zu den „Linden“ hinaus. Die Straße war schwarz von Menschen. Im Sprechchor riefen sie: „Studenten, wollt ihr Deutsche sein, reiht euch ein!“ Einige „Ober-FDJler“ saßen auf dem Dach und brüllten zurück: „Nein!“ Da erhob sich ein solcher Sturm der Entrüstung, dass zu befürchten war, die Massen würden die Universität stürmen. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Vom Alex bis zum Brandenburger Tor Menschen, dicht an dicht. Man hatte das Gefühl „Jetzt oder nie!“. Auf dem Brandenburger Tor wehte keine rote Fahne mehr. Rauch stieg dort auf, man hatte sie verbrannt.
Gegen Mittag verbreitete sich das Gerücht, Demonstranten hätten versucht, in ein Ministerium einzudringen. Da sei geschossen worden und es habe Tote gegeben. Die Wut nahm zu, aber auch die Angst. Ob das ein gutes Ende nehmen würde? Man konnte sich leicht ausrechnen, dass die Sowjets eingreifen würden, um die „souveräne“ DDR zu retten.
Panzer und Kanonenschüsse
Wir beschlossen, zum Dom zu gehen, und kletterten hinauf auf den Kranz der Domkuppel. Von oben war die ungeheure Menschenansammlung noch beeindruckender. Gegen 13.30 Uhr hörten wir ein großes Geschrei und das typische Rasseln von Panzer-Ketten, hin und wieder einen Kanonenschuss – anscheinend nur mit Kartuschen, nicht mit scharfer Munition, denn es waren keine Einschläge zu erkennen. Die Menschen unten begannen zu rennen, Hüte und Taschen flogen. In breiter Front rückten die Panzer quer über den Marx-Engels-Platz vor. Sie ließen den Leuten immer einen Augenblick Zeit zum Rennen, schoben sich dann ungefähr 5 Meter weiter vor, schossen wieder in die Luft, bis sie die Brücken über den Kupfergraben erreichten. Ihre Hauptstoßrichtung: die Linden und das „Brandenburger Tor“. Es folgten Schützenpanzer mit Mannschaften. Auf der Brücke am Zeughaus war wohl einer hingeschlagen, er wurde überfahren. Die Menschen schrien empört ihren Zorn heraus. Wie es schien, gab es sogar welche, die ein Kreuz zusammennagelten und aufstellten und mit ein paar Blumen oder Zweigen behängten. Mit Genugtuung nahmen die Demonstranten zur Kenntnis, dass in Görlitz die „Kasernierte Volkspolizei“ entwaffnet worden war und man ihre Waffen in die Neiße geworfen habe. Nach Bürgerkrieg war niemandem zumute.
Ein ganzes Land in Schockstarre
Am Nachmittag verdrückten wir uns aus dem Dom und gingen auf Schleichwegen ins Studentenwohnheim „Johanneum“, wo die beide Kommilitonen wohnten. Gegen Abend wurden überall Plakate geklebt, der Ausnahmezustand war erklärt, Ausgehverbot von 20 bis 6 Uhr. Am nächsten Tag herrschte Friedhofsruhe. Überall standen Posten und die Menschen spielten wieder „Normalbetrieb“. Ost- war von Westberlin abgeriegelt, und das sollte wochenlang so bleiben.
Wir gingen schlafen und hofften, dass mit der Zeit Verstand, Ehrlichkeit und Vernunft sich durchsetzen würden. Das erwies sich als Irrtum. So ging ein ganzes Volk in „Kältestarre“.
Auf Wunsch des Autors wurde sein Name geändert.