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Zeit zum Klagen

Andacht über den Predigttext zum Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr: Hiob 14, 1-17

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Predigttext (in Auszügen)
1 Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, 2 geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. 3 Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. 4 Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! 5 Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: 6 so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut. 7 Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schösslinge bleiben nicht aus. 8 Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Staub erstirbt, 9 so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze. 10 Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um – wo ist er? (…) 13 Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest! (…) 15 Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. 16  Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. 17 Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.

Es ist das Jahr 1952 – ein grauer Novembertag. Sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich Menschen zusammengefunden. Es ist Volkstrauertag.

Es ist ein Tag im späten Jahr. Eine Zeit, in der die Schatten der Vergangenheit Platz haben in der Seele. Es ist eine Zeit, in der Menschen mehr als sonst Licht, Wärme und Liebe brauchen. Ich stelle mir vor, wie sie in diesem Jahr 1952 auf die Friedhöfe gegangen sind. All diese schwarz gekleideten Frauen und Kinder, Mütter und Väter.
Eine dieser jungen Frauen, in ihrem schwarzen Kleid und mit einem weißen Spitzentaschentuch, war meine Oma. Zusammen mit ihren Eltern ist sie diesen schweren Weg gegangen – der Krieg hat das Leben ihres Bruders gefordert. Viele Tränen wurden geweint, um einen geliebten Bruder, um einen Sohn, um eines der Kinder, das aus dem Krieg nicht wieder zurückgekommen ist.

Meine Oma hat mir nicht viel aus dieser Zeit erzählt, zu tief waren der Schmerz und die Grausamkeiten, die sie gesehen haben muss. Ihre Tränen haben mich bloß ahnen lassen, dass die Traurigkeit und das Herz zu schwer waren, um die Erinnerungen zu teilen. Und dennoch gab es die eine Frage, die an diesem Tag an den vielen Gräbern gestellt wurde: „Warum, Gott?“

Hiob: Kein gefallener Soldat. Kein Opfer eines Krieges und dennoch: Als einer, der „fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse meidend“ ist, erlebt er plötzlich, wie die Hölle auf Erden losbricht und auch er weint, um seine Frau, seine Kinder, ein Zuhause.

„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“ (1, 21), ist Hiobs Erfahrung mit Gott. Er aber stellt Gott nicht nur die Frage nach dem Warum, sondern klagt ihn an und fordert sogar nach allem, was er bisher erleiden musste, von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Die Ruhe im Tod ist seine Hoffnung. Hiob ist bei seinen unbarmherzigen Worten Gott gegenüber also nicht hoffnungslos, auch wenn das Totenreich nicht als ein hoffnungsvoller Ausblick erscheinen mag. „Ach, dass du an mich denken wolltest“, seufzt er.

Ich habe als Kind nicht verstanden, warum meine Oma bei Erzählungen von damals immer wieder Zweifel an Gott deutlich gemacht hat, war sie doch diejenige, die mir das Vaterunser beigebracht hat. Doch bei Hiob bleibt es nicht nur bei den Zweifeln und der Frage nach dem Warum – er klagt Gott an, lässt nichts aus – er wird mehr als deutlich.

Die Klage richtet sich an Gott als Gegenüber – an denjenigen, den Hiob verantwortlich macht, der solchen Klagen standhalten muss, dem man vertraut und auf den man hofft. Ist Hiob so unbarmherzig mit Gott, weil es für ihn immer noch eine Beziehung zu ihm gibt? „Ach, dass du an mich denken wollest“ – keine Klage, sondern ein Hoffen?

Ob meiner Oma oder Hiob das bewusst war oder nicht, aber sie gehen mit ihrer Klage nicht mit Gott ins Gericht, sondern sie wenden sich in ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit an ihn. Irgendwann hat meine Oma aufgehört, die Frage nach dem Warum zu stellen, sie hat aber nie aufgehört zu beten: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“

Und auch Hiob hat am Ende nicht aufgehört zu beten: „Ach, Gott, dass du an mich denken wollest.“ An den grauen Novembertagen denke ich oft an meine Oma und ihre Erzählungen. Am Volkstrauertag denken wir an alle diejenigen, die in den zahllosen Kriegen ihr Leben verloren haben. Und Gott wird niemals aufhören, an uns zu denken!