Die ehemalige New Yorker Pfarrerin Rosalind Gnatt erinnert sich an die erschütternden Erlebnisse des 11. September 2001.
Der 9. September 2001 war das, was man einen schönen Tag nennt. Es war ein Sonntag. Ich sang mit dem Chor der St. Hywyn's Church in Aberdaron/Wales. Die Kirche stammt aus dem zwölften Jahrhundert und liegt am Strand. Die Welt war in Ordnung. Zwei Tage später, zurück in Manhattan, wurde unser Leben bis ins Mark erschüttert.
Am 11. September morgens kurz vor neun Uhr stürzten zwei entführte Passagierflugzeuge, gesteuert von Anhängern des islamistischen Terrornetzwerks Al-Qaida, in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York City. Wenig später steuerte eine andere Entführergruppe ein Flugzeug ins Pentagon, Hauptsitz des US-Verteidigungsministeriums bei Washington D.C..
Das letzte gekaperte Flugzeug verpasste sein Ziel, weil Passagiere sich heftig zur Wehr gesetzt hatten. Auch hier starben alle Menschen an Bord. Das Leben anderer haben die Passagiere durch ihr beherztes Eingreifen gerettet. Die als terroristischer Massenmord eingestuften Anschläge forderten knapp 3000 Menschenleben. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten nicht mehr von einer fremden Macht auf eigenem Boden angegriffen worden. Damit war es an diesem Morgen des 11. September 2001 vorbei.
Ich erinnere mich noch sehr genau: Mein Mann rannte, um unsere kleine Tochter von der Schule nach Hause zu bringen. Ich rannte, um Lebensmittel zu besorgen. U-Bahnen fuhren nicht mehr, Busse waren vollgestopft mit Menschen. Ich stand hilflos mit meinen schweren Tüten an der Ecke von Broadway und 74ster Straße. Ein Mann – mir völlig fremd – fragte, ob er mir beim Tragen meiner Einkäufe helfen könne.
Es war ein Gang von etwas mehr als einer Meile, also knapp zwei Kilometer. Wir sprachen über Freunde, die sich möglicherweise in den Gebäuden aufgehalten haben könnten, Freunde, die nahe genug gewesen sein könnten, um verletzt worden zu sein. Wir schauten uns mit bangem Blick an und fragten uns: Wie wird es sein, wenn wir wissen, wen wir verloren haben?
Bis wir meine Wohnung erreicht hatten, war eine Nähe zwischen dem Mann und mir entstanden. Wir haben uns bis jetzt nie wiedergesehen, aber ich werde ihn nie vergessen. Ich betrachte ihn als barmherzigen Samariter, ein Mann, der seinen Namen nicht genannt hatte. Es gab so viele barmherzige Samariter an dem Tag.
Laufen durch eine giftige Wolke von Trümmern
Langsam versammelte sich unsere Familie: mein Mann Michael und Tochter Emily, Tochter Kim und ihr Mann Cory. Sie waren traumatisiert, nachdem sie vier Meilen, etwas mehr als sechs Kilometer, durch eine giftige Wolke von Trümmern gelaufen waren.
Der Tag neigte sich dem Ende zu. „Lasst uns zum Fluss gehen!“, sagten wir wie mit einer Stimme. Wir wohnten nur wenige Schritte entfernt vom Hudson River. Als wir uns, ohne zu sprechen, dem Ufer näherten, war alles still. Totenstill. Wir glaubten, wir seien die Einzigen, die sich dorthin aufgemacht hatten.
Die Sonne sank langsam. Wir erreichten das Ufer, schauten nach rechts und links. Schulter drängte sich an Schulter, das Flussufer war von Menschen gesäumt, jede und jeder so ruhig wie wir. Nur das Plätschern des Wassers war zu hören.
Der Psalm 137 fällt mir ein. An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: „Singet uns ein Lied von Zion!“
Der Hudson ist genauso beeindruckend wie der Rhein zu seinen besten Zeiten. Wirkt er so, weil er eine Naturgewalt ist, viel größer und kraftvoller als selbst der Schrecken der Flugzeuge, die so viele Leben im Handumdrehen ausgelöscht haben? Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß: In jenen Stunden brauchten wir den Fluss.
In meiner Kirche, der Judson Memorial Church in Greenwich Village, wurde danach die Gemeinschaft noch wichtiger, wir hielten einander und hielten zusammen. Wir erzählten unsere Geschichten, wir teilten unseren Schmerz. Wenn ich die Geschichten von Deutschen höre, die in den 1940er Jahren Kinder waren, und jetzt, in ihren späten Jahren, immer noch den Schrecken der fallenden Bomben und die Verwüstung ihrer Straße, ihrer Häuser in ihrem Kopf, in ihrem Herzen haben, erkenne ich, wie ähnlich unser Schmerz ist.
Mein Mann kann sich nicht dazu durchringen, in seine Heimatstadt Königsberg zurückzukehren. Das kleine Kind, das wir alle in uns tragen, erinnert sich lebhaft an die Schatten der Flugzeuge, an die Bomben, den Geruch, die Schreie.
Viele von uns, die am 11. September in Manhattan dabei waren und beobachten mussten, wie die Flugzeuge durch die Twin Towers schnitten, können nicht an diesen Ort zurück. Auch ich nicht – obwohl ich noch viele Jahre in Manhattan lebte, bevor ich nach Deutschland umgezogen bin.
Folgen waren brutale und sinnlose Kriege
Was auf die Terroranschläge folgte, waren die brutalen und sinnlosen Kriege, der „War of Terror“ der USA. Die Militäroperation „Enduring Freedom“ begann am 7. Oktober 2001 in Afghanistan. Sie hatte das Ziel, die Taliban-Regierung zu stürzen und Al-Qaida zu bekämpfen. Zur Begründung des Irakkriegs 2003 bezog sich die US-Regierung ebenfalls auf die Anschläge vom 11. September 2001, obwohl daran erhebliche Zweifel bestanden auf Seiten zahlreicher NATO-Verbündeter. In diesem „Krieg gegen den Terror“ soll bis 2015 weit über eine Million Menschen getötet worden sein.
Dazu fallen mir Worte des Propheten Jeremia ein, die er richtet an damalige falsche Propheten, die zum Krieg verführt haben und zu aktuell lügenden Propheten, die Gottes Namen missbrauchen (Jeremia 23, 25): „Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen…“