Greifswald. Als 1917 das 400-jährige Reformationsjubiläum in Greifswald gefeiert wurde, waren die Folgen des vierten Kriegsjahres überall in der Stadt zu spüren. Wer am Reformationstag in die Zeitung sah, las auf der Titelseite vom italienischen Kriegsschauplatz mit großer Schlagzeile: „Udine von den verbündeten Truppen eingenommen“. So ging es jeden Tag: Unter großen Lettern wurden zumeist Siegesmeldungen vermeldet, und öfters läuteten deswegen die Glocken – sofern sie noch in den Kirchen hingen.
Schon am 1. März 1917 war im Deutschen Reich verkündet worden, wegen des Rohstoffmangels im ganzen Land müssten die Gemeinden ihre Bronzeglocken abliefern, zu Kriegszwecken sollten sie eingeschmolzen werden. Nur Glocken von besonderem historischem Wert und jeweils eine für den Gottesdienstgebrauch sollten zurückgestellt werden. Während die Greifswalder Marienkirche ihre drei Glocken als historisch wertvoll behalten durfte, mussten St. Jacobi und der Dom gleich drei abliefern. Ausgerechnet über den Reformationstag am 31. Oktober wurde die größte Glocke von St. Nikolai oben im Turm zerschlagen, 14 Tage dauerte dieser Prozess. Es muss eine verstörende Begleitmusik zu den Reformationsfeiern gewesen sein.
Gemeinden bereiteten sich monatelang vor
Die Feiern selbst erreichten in diesen Tagen ihren Höhepunkt. Greifswald hatte damals 24 000 Einwohner und rund 1200 Studierende und dieses bildungsbürgerliche Milieu prägte auch das Reformations-Gedenken. Bei den meisten Aktivitäten griffen die Stadt und die Kirche auf Formen des 400-jährigen Geburtstages von Martin Luther im Jahre 1883 zurück. Festumzüge, Medaillen, Vorträge und Ehrenpromotionen gab es hier wie dort.
Im Sommer war in der barocken Aula der Universität Greifswald bereits eine Ausstellung gezeigt worden. Bücher und Medaillen, Schriften, Briefe und vor allem der große von 1554/56 stammende Croy-Teppich mit dem predigenden Luther in der Mitte waren zu sehen. Der Teppich hängt heute dauerhaft im Pommerschen Landesmuseum, der Anblick damals war etwas Besonderes, er „entsteigt ja sonst nur alle zehn Jahre seinem Kistengrabe“, schrieb die Zeitung.
In den Gemeinden startete schon Monate vorher die Vorbreitung auf die Festgottesdienste am 31. Oktober. Der evangelische Oberkirchenrat in Berlin hatte den Erlass herausgegeben, Lutherlieder und den Dank- und Lobgesang des „TeDeum“ einzuüben. Zwar standen im Gesangbuch damals 17 Lutherlieder, gesungen wurden aber in der Regel nur drei davon, darunter „Ein feste Burg“ – also gab es besondere Singestunden in den Gemeinden, oft vor den Gottesdiensten.
Geschäfte am Reformationstag geschlossen
Am Reformationstag selbst, einem Mittwoch, hatten schließlich alle Schulen, Büros und Geschäfte geschlossen. Halb Greifswald muss sich am Rande der Innenstadt versammelt haben, um den Festumzug zu sehen, der um 9.30 Uhr startete. Mit 31 Innungs-, Korporations- und Militärfahnen zog er durch die geschmückte Stadt zu den Altstadtkirchen St. Nikolai, St. Marien und St. Jacobi. Um 10 Uhr begannen dort die Gottesdienste, mit strengen Sitzordnungen. Man wollte vermeiden, dass diejenigen, die nicht im Festzug mitgingen, die Mittelplätze besetzten und die anderen auf die Plätze hinter den Säulen verdrängten. Das große Bürgerschaftliche Kollegium und der kleine Magistrat der Stadt nahmen geschlossen teil. Sie hatten zunächst überlegt, mit Rücksicht auf die katholischen Mitbürger nicht als Gremium zu kommen, doch dann hieß es, das wäre „ein Schlag ins Gesicht der protestantischen Bevölkerung“.
Nach den Gottesdiensten lud die Universität zu einem Festakt in die barocke Aula ein. Als Redner hatte man Theologieprofessor Johannes Kunze auserkoren, doch als der Saal voll war und Kunze begann, passierte etwas Ungewöhnliches. „Gleich zu Beginn des Vortrages wurde der Redner ohnmächtig“, schrieb die Zeitung. „Als er versuchte, weiter zu reden, fiel er zum zweiten Male um.“ So musste Kunze im Sitzen sprechen. Nachdem er geendet hatte, wurden Jubiläumsstiftungen bekanntgegeben und Ehrenpromotionen verliehen.
Mit einem „Volksabend“ in der Stadthalle schloss der Reformationstag. Man erwartete einen solchen Andrang, dass die Programme mit nummerierten Sitzplätzen nur im Vorverkauf zu erhalten waren und Jugendliche unter 14 Jahren überhaupt keinen Zutritt hatten. Es wurde ein Abend fast durchgehend in „vaterländischer Sprache“. In langen Gedichten wurde Martin Luther zum Heraufsteigen aus seinem Grab beschworen und mit Siegfried verglichen, und der Hauptredner Professor Wiegend – ebenfalls ein Theologieprofessor – wählte das Thema „Luther, der deutsche Volksmann“. Er rückte den Reformator in die Reihe der Männer, durch die „Gott unser Volk groß und stark gemacht hat, so groß und stark, daß es der ganzen uns feindlich umstarrenden Welt zu trotzen vermag.“ Als „Urahn“ stehe Luther hinter den deutschen Feldherren, hinter Kant mit seinem Pflichtbewusstein und Schleiermacher mit seinem frommen Sinn, erklärte Wiegand. Die Versammlung endete mit dem stehend gesungenen Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Lutherlieder in der Mädchenschule
Dagegen hatte die Mädchen-Bürger-Schule in dem Jahr einen ganz anderen Ton angeschlagen. Mehrmals führte sie ein Festspiel des Lehrers und Musikers Franciscus Nagler über Luther auf, mit dreistimmigem Kinderchor. Obwohl das Stück 1917 entstand, fehlten ihm die martialisch-nationalistischen Töne, es war mit Humor und pädagogischer Ader verfasst. Zwischen gesprochenen Passagen wurden Lutherlieder, Volksweisen und sogar ein Stück von Richard Wagner gesungen.
Einen Reporter animierte das zu höchsten Lobesworten. Er schrieb, zu einer rechten Lutherfeier nach „deutsch-evangelischem Empfinden“ gehörten: „Schlichtheit und Wärme, Kinder und Lieder, Wort und Anschauung, Ernst und Humor, traute Häuslichkeit und weltweite Perspektiven, Beteiligung des Publikums durch gemeinsame Gesänge, Lutherworte und Lutherlieder!“ (epd)
Unser Autor
Pfarrer i.R. Rainer Neumann war früher Superintendent in Greifswald.