Christian erkrankte mit 14 Jahren an einem Hirntumor. Die Folgen der aggressiven Therapie spürt er noch heute. Seinen Bruder Marco stachelte die Diagnose an, Wissenschaftler zu werden – er betreibt Grundlagenforschung.
Die Kopfschmerzen kamen plötzlich und wurden immer heftiger. Der Kinderarzt war ratlos und verwies zur Abklärung an eine Klinik. Dort meinten die Ärzte: Das klingt nach Simulation. Doch die Mutter von Christian blieb hartnäckig, forderte weitere Untersuchungen. “Mein Bruder war nie zimperlich gewesen, doch jetzt konnte er die Schmerzen kaum aushalten”, erzählt Marco, Christians Bruder. Schließlich wurde im Krankenhaus ein MRT vom Kopf gemacht. Die niederschmetternde Diagnose: Krebs. Im Kleinhirn hatte sich ein Medulloblastom breit gemacht, vermutlich war es innerhalb weniger Wochen gewachsen. Ursache: unbekannt.
Das Leben der Familie von der Bergstraße in Hessen war auf den Kopf gestellt. “Ich musste ganz schnell erwachsen werden”, erinnert sich Marco. Er war damals 16 Jahre alt, seine Schwester 9. Nun fuhr die Mutter jeden Tag nach Frankfurt zur Universitätsklinik, der Vater immer dann, wenn es sich beruflich einrichten ließ. Der Tumor wurde operativ entfernt, danach folgten Bestrahlung und Chemotherapie, monatelang. “Die Prognosen waren am Anfang schlecht, die Ärzte fürchteten, dass mein Bruder nie wieder würde gehen können, wenn er überhaupt überlebt”, sagt Marco. Doch es kommt anders: Christian wird ein Cancer-Survivor, ein Krebs-Überlebender.
Unterdessen nimmt Marcos Leben durch die Krankheit des Bruders eine Wende. Er wählt Biologie und Chemie als Leistungskurse am Gymnasium, danach studiert er Biologie: “Ich wollte verstehen, was im Kopf meines Bruders passiert war.” Während des Studiums ergibt sich die Möglichkeit, im Petra-Joh-Forschungshaus ein Praktikum zu machen.
Das Forschungshaus gehört der Frankfurter Stiftung für krebskranke Kinder, benannt ist es nach Petra Joh, die mit 32 Jahren an Krebs starb und ihr gesamtes Vermögen der Stiftung vermachte. So wurde die Errichtung des Forschungshauses 1999 möglich, das Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kinderonkologie betreibt.
Marco ist Teil des Teams. Nach Studium und Promotion bekommt er einen Job im Interdisziplinären Labor für pädiatrische Tumor- und Virusforschung, das über die weltweit größte Sammlung von Krebszelllinien verfügt, die gegen Chemotherapien resistent sind. Mit ihnen wollen die Wissenschaftler besser verstehen, wie Resistenzen entstehen und herausfinden, ob es doch noch Behandlungsmöglichkeiten gibt, die bei eigentlich aussichtsloser Lage wirken. Die Krebsart, die Christian fast das Leben gekostet hätte, ist ebenfalls in der Datenbank. Marco kennt sie bestens – er hatte die Zellen schon zig Male unter dem Mikroskop.
Forschungsinitiativen wie die der Frankfurter Stiftung gibt es viele, national wie international. Die Erfolge sind gleichwohl überschaubar. Die Heilungschancen haben sich seit 30 Jahren für viele Erkrankungen nicht verbessert; jedes fünfte an Krebs erkrankte Kind stirbt.
Derzeit werden hierzulande jährlich etwa 2.000 Kinder im Alter von null bis 14 Jahren mit einer Krebserkrankung diagnostiziert. Damit liegt Deutschland bei der Zahl neuer Krankheitsfälle im internationalen Vergleich über dem europäischen Durchschnitt und ist vergleichbar mit den Raten in Australien und den USA. Laut dem Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz sind direkte internationale Vergleiche allerdings schwierig: Die Daten aus einigen Ländern sind nicht immer aktuell und vollständig, außerdem sind die Fallzahlen insgesamt gering, so dass Unterschiede auch zufällig sein können.
Das Kinderkrebsregister erfasst seit 1980 systematisch alle bösartigen Erkrankungen sowie auch gutartigen Hirntumore bei Kindern, sofern die Erkrankung vor dem 15. Geburtstag aufgetreten ist. Seit 2009 werden auch Erkrankungen bei den unter 18-Jährigen registriert. Die Vollzähligkeit der Erfassung wird auf etwa 95 Prozent geschätzt, bei Hirntumoren etwas niedriger.
Zeitliche Analysen zeigen, dass die Erkrankungsraten insgesamt gestiegen sind. In den Anfangsjahren der Registrierung zwischen 1980 und 1987 lässt sich dieser Anstieg in erster Linie auf eine verbesserte Erfassung der Kinderkrebspatienten zurückführen. Seit den 1990er-Jahren war der Anstieg der Inzidenzraten dann weniger stark ausgeprägt und hing von der Krebsart ab; die Inzidenzraten für sogenannte solide Tumoren haben bis heute andauernd weiter zugenommen.
Experten des Kinderkrebsregisters warnen hier allerdings vor einfachen Erklärungen. Inwiefern und zu welchem Ausmaß das Erkrankungsrisiko tatsächlich angestiegen sei, könne mit den verfügbaren Daten nicht bestimmt werden. Das Gleiche gelte für die Ursachensuche. Als mögliche Ursachen von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter werden neben genetischen, schwangerschafts- und umweltbezogenen Einflüssen auch lebensstilbedingte und soziale Faktoren diskutiert – oft kontrovers und ohne eindeutige wissenschaftliche Evidenz.
So konzentrieren sich viele Forscher auf die Frage, wie die Folgeschäden der zur Heilung eingesetzten Therapien reduziert werden können. “Such mal was mit weniger Nebenwirkungen”, hat Christian seinem Bruder Marco gesagt. Therapeutika in der Krebsbehandlung sind hochgradig giftig, viele Überlebende entwickeln langfristig gesundheitliche Probleme.
Auch Christian, der inzwischen 28 Jahre alt ist, leidet unter Hörproblemen, der Gleichgewichtssinn ist beeinträchtigt. Alle sechs Monate muss er zum Check-Up; der Krebs kann – das schwebt wie ein Damoklesschwert über jedem Überlebenden – wiederkommen oder an anderer Stelle neu entstehen. “Trotzdem ist mein Bruder ein positiver Mensch”, sagt Marco. Die schlimme Erfahrung habe ihn geprägt, sie bestimme aber nicht sein Leben.