Es gehört einiges dazu, sich an einem sommerlichen Samstagvormittag in ein altes Schulgebäude zu setzen, um Stenografie zu lernen. In Regensburg diktiert Lehrkraft Sandra Bergmann einen Geschäftsbrief. Die Kursteilnehmer führen den Stift akribisch von Zeile zu Zeile. Das langschriftliche „m“ hat drei Bewegungen, die Kurzschrift nimmt nur den letzten Bogen. Das ist das Prinzip von Stenografie: „Sprache so zu komprimieren, dass das Mitschreiben enorm beschleunigt wird. Für häufig genutzte Wörter gibt es spezielle Kürzel. Die Zeichen bestehen manchmal nur aus einem einzigen Strich oder Punkt an einer bestimmten Stelle“, erklärt Bergmann.
Der Vorteil liege auf der Hand: Mit höchster Genauigkeit lassen sich rasante Schreibgeschwindigkeiten erzeugen. Mit normaler Handschrift schafft man vielleicht 60 Silben pro Minute. Erfahrene Stenografen können bis zu 500 Silben pro Minute schreiben, „das ist oft schneller als man spricht“.
Zum Ende hin hat das Diktat nochmal Tempo aufgenommen. Die Blätter füllen sich säuberlich mit Hieroglyphen. Wer mitkommen will, braucht hohe Konzentration. Wer rausfliegt, verpasst schnell den Anschluss. Noch sind alle Kursteilnehmer im Rennen. Im Klassenraum sitzen Frauen, die Steno noch aus der Schule kennen. Und einige junge Leute, die es lernen wollen.
Clara Winterer ist eine von ihnen. Sie hat mehrere hundert Zeichen pro Minute geschafft. „Es ist im Prinzip wie ein neues Alphabet, das man lernt“, sagt die 21-Jährige, die im dualen Studiengang Businessmanagement studiert. „Ich dachte, das ist gut für die Univorlesungen.“ Außerdem sehe es schön aus, „wie chinesische Schriftzeichen oder so eine Art Geheimschrift“. Für ihre Tagebucheinträge sei das ideal, sagt Clara. Es dauert zwar, bis man richtig gut ist, „aber wenn man übt, wird man automatisch schneller“.
Wer hier im Kurs sitzt, hat Durchhaltevermögen bewiesen. Kurzschrift wird an den Schulen heute nicht mehr gelehrt. Wer er lernen will, muss es sich im Selbststudium, bei den Volkshochschulen und Stenografenvereinen oder mithilfe eines Fernlehrgangs beibringen. „Das ist ein harter, steiniger Weg. Ich habe großen Respekt vor Leuten, die diese Kultur der Kurzschrift erhalten wollen“, sagt Bergmann.
Sie unterrichtet nicht nur im Stenografenverein Regensburg, sondern arbeitet hauptberuflich in einer großen Kanzlei. Kurzschrift verwendet sie täglich. „Ich gehe ans Telefon und mache mir meine kurzschriftlichen Notizen. Oder stenografiere einen Vertrag mit einem Mandanten schnell mit.“ Alles was sie dafür benötigt: „Einen Stift und ein kleines Stück Papier. Ich bin sofort einsatzbereit, brauche keine Technik, kein Aufnahmegerät, keinen Strom, nichts“, sagt sie. „Die Finger funktionieren immer.“
Künstliche Intelligenz und Spracherkennung spielen in ihrem Beruf bisher kaum eine Rolle. Zwar könnten automatische Systeme das Gesprochene aufzeichnen und verschriftlichen. Doch im Alltagsgeschäft sei das unpraktisch. „Ich muss nicht erst zurückspulen, um die richtige Stelle zu finden. Ein kurzer Blick – und der Wortlaut liegt vor.“ Auch Zwischenrufe bei Sitzungen kann Bergmann einfangen, „die vielleicht auf dem Band im Nachhinein nicht mehr klar zuzuordnen sind“.
Diese Expertise macht sich auch der stenografische Dienst des Bundestages zunutze. Bei den Parlamentsdebatten geht es manchmal hitzig zu. Zwischenrufe und Wortwechsel unterbrechen die Abgeordneten bei ihren Reden. Trotzdem müssen sie festgehalten und korrekt zugeordnet werden. Das übersteige die Fähigkeiten aktueller Technik, heißt es in einer Parlamentspublikation. Auch Dialekte stellten die Technik vor Hürden. Die Stenografen von Bundes-, Landtag oder Justiz müssen sich auch Gesichter, Namen und Stimmen gut einprägen können, um im Moment des Zwischenrufs sofort zu wissen, wer gerade spricht.
„Stenografie ist ein mentaler Hochleistungssport“, erläutert die Vorsitzende des Regensburger Stenografenvereins, Sabrina Weitzer. „Das Gesprochene geht in den Kopf rein, und die Hand setzt es automatisch um.“ Schon als Schülerin habe es sie fasziniert, „in welche Geschwindigkeiten man da reinkommt“. Es braucht Übung und Konzentration, „aber die meisten haben das Durchhaltevermögen heute leider nicht mehr“, beklagt die Vorsitzende. Nur drei Jugendliche lernten aktuell noch die Kurzschrift bei ihnen im Verein.
Beim vierminütigen Diktat lag Frank Sylla bei über 200 Silben pro Minute – nicht schlecht für einen Jugendlichen, der Steno nicht in der Schule gelernt hat. Die ersten Kürzel hat er sich selbst beigebracht, um bei Meetings in der Arbeit besser mitschreiben zu können, erzählt der 20-Jährige. Auch seine Freunde fanden es „cool“, dass er „so eine krasse Geheimschrift“ kann, erzählt er. Inzwischen macht Frank auch bei den Wettbewerben mit.
Stefan Schubert (59) vom Stenografenverein Landshut ist sechsfacher und amtierender Deutscher Meister in Stenografie. Im fortgeschrittenen Alter ist er mit seiner mentalen Stärke allen um Silbenlängen voraus. „Es liegt nicht an der schnellen Hand“, sagt er. Spätestens ab einer Geschwindigkeit von über 250 Silben pro Minute gehe es darum, „die Sprache geistig in die stenografischen Schriftbilder umzusetzen und in Sekundenbruchteilen auf das Papier zu bringen“. Das macht ihm so schnell keiner nach – auch nicht der Nachwuchs. (2477/29.07.2025)