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Wenn Würfelglück über Ackerland entscheidet

Mit Superlativen kennt man sich im unterfränkischen Osing aus: letzte Markgenossenschaft Deutschlands, größte Freimarkung Europas. Nur können sich wohl die meisten Menschen nicht richtig viel darunter vorstellen. Für Landwirtschafts-Laien könnte man die Besonderheiten so zusammenfassen: In einer Freimarkung gehören Felder, Wiesen, Wald und Ödflächen allen gemeinsam, wie es einst im Mittelalter üblich war – und im Osing noch heute ist. Alle zehn Jahre werden die 488 Parzellen nach einem jahrhundertealten Brauch mit besonderen Würfeln und Losen an Menschen aus vier Dörfern zur Nutzung neu vergeben, sogenannten „Rechtlern“. Das ist ein riesiges Spektakel, immer in Jahren mit einer vier am Ende – so auch 2024.

Humprechtsau, Herbolzheim, Rüdisbronn und Krautostheim heißen die vier Dörfer nahe der Kleinstadt Bad Windsheim, die an die Hochfläche des Osing grenzen. Erstmals erwähnt wurde er am 8. Mai 1465 in einer Urkunde, der Sage nach ist seine Geschichte aber noch viel älter. Kaiserin Kunigunde – die Frau von Kaiser Heinrich II. – soll sich um das Jahr 1000 im Wald nahe der vier Dörfer verirrt haben. Das Abendläuten der vier Kirchtürme lotste sie wieder heraus. Aus Dankbarkeit schenkte die Kaiserin den Bauern der vier Dörfer das Osing-Gelände.

Für Osing-Obmann Günther Rabenstein ist es durchaus nicht selbstverständlich, dass es die Verlosung überhaupt noch gibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als immer mehr Maschinen in die Landwirtschaft einzogen und die Betriebe immer größer wurden, „gab es schon den ein oder anderen, der die Kleinteiligkeit im Osing für überholt gehalten hat“, sagt er. Zum Glück kam es anders. „Die haben sich vor Hunderten Jahren ja einmal was dabei gedacht“, findet der Obmann. Seit 2016 ist die Verlosung immaterielles Unesco-Kulturerbe.

Dass es dazu kam, ist größtenteils der Verdienst des Osing-Vereins. Vorsitzende Carina Thal hat zwar mit der ganzen Verlosung und Verwaltung des Osings nichts zu tun – sie kümmert sich aber mit ihren Mitstreitern ums Brauchtum. Das bedeutet: Das Festwochenende, die Pflege des Osinghauses am Osing-See, die „Kaiserin Kunigunde“, die wie eine Weinkönigin regelmäßig gewählt wird, um den Osing zu repräsentieren, all das liegt in ihren Händen: Dass sie nun erstmals die Verlosung als Unesco-Kulturerbe begehen, findet sie „großartig“.

Am 20. September ist der große Tag. Ein ausgeklügeltes System soll dabei sicherstellen, dass fruchtbare und weniger geeignete Felder gerecht verteilt werden. „Wir haben auf den knapp 270 Hektar nicht durchgehend eine Top-Bodenqualität“, erklärt Obmann Rabenstein. In den Wochen vor der Verlosung werden die einzelnen Stücke – im Osing heißen sie „Züge“ – neu vermessen. Jeder Zug wiederum besteht aus vier Parzellen, den „Losen“. Mit den Osing-Würfeln werden die Lose einem der vier Orte zugeteilt.

Das alles geschieht in den Wochen vor der eigentlichen Verlosung. Der Verlosungstag selbst ist ein Freitag und markiert den Auftakt zu einem Festwochenende. Die Grundschulkinder der Ortschaften haben schulfrei, denn sie sind die Glücksbringer. Von acht Uhr bis zur Mittagspause laufen die Osing-Verwalter rund um Obmann Rabenstein zusammen mit den „Rechtlern“ die Lose östlich des Osing-Sees ab, nach der Mittagspause alle westlichen Lose. Die Kinder ziehen dabei aus Beuteln die Namen der „Rechtler“.

Freud und Leid liegen an diesem Tag nah beieinander – wobei eigentlich die Freude überwiegen müsste, denn die Osing-Grundstücke sind erklärtermaßen Gemeinschaftseigentum und ihre Nutzung ein Privileg. Trotzdem: „Wer nach zehn Jahren super Ackerland abgeben muss und dafür steiniges Weideland bekommt, der schreit nicht ‘Hurra!’ Aber so sind nun einmal die Bedingungen“, sagt Rabenstein. Das Regelwerk für diese Praxis ist uralt und wird auch als Markgenossenschaft bezeichnet.

Als alleinige Wirtschaftsgrundlage wären die einzelnen Lose mit einem Drittel Hektar Größe allerdings viel zu klein. „Mit modernen Traktoren kann man sie einzeln kaum noch befahren“, erklärt Rabenstein. Deshalb müssen Flächen getauscht oder dazu gepachtet werden. Das ist am Verlosungstag ab der Mittagspause zulässig – alle vorab geschlossenen Handels-Abmachungen wären ungültig. „Die mehr als 200 Rechte sind durch Erbschaften und Hochzeiten nur noch in der Hand von 110 Rechtlern“, sagt Rabenstein. Am Ende sind die Flächen für den einzelnen Landwirtsbetrieb also gar nicht so klein.

Das liegt aber nicht nur am Erben und Heiraten, sondern auch daran, dass viele „Rechtler“ heute gar keine Landwirtschaft mehr betreiben und verpachten. „Die wohnen inzwischen in Nürnberg, Mannheim und noch weiter weg“, sagt Rabenstein. Ihre Freimarkung ist ihnen aber so wichtig, dass sie sich die Verlosung nicht entgehen lassen und selbst vor Ort sind. „Wer irgendwie kommen kann, der kommt“, sagt Carina Thal. Und bleibt meistens auch zum Festwochenende. (00/2788/18.09.2024)