Ein Sonntag in Apahapsili, im Hochland von Westpapua in Ostindonesien: „Wai-jo hu-je – hinter den Bergen lebten wir, finster war es – wai-jo hu-je – Gott hat uns gefunden, hell strahlt jetzt sein Licht“, singen sie im Rhythmus ihrer alten Tanzlieder. Mit Blumenkränzen im Haar und leuchtend farbigen Tragnetzen auf dem Rücken tanzen Frauen und Kinder an der Spitze eines langen Zuges. Hinter ihnen eine Reihe kräftiger Männer, die schwere Kisten tragen. Den Zug beschließen rund hundert Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter in festlichen Gewändern.
Wie einst das Volk Israel die Bundeslade mit den Zehn Geboten nach Kanaan brachte, so tragen die Yalis die in ihre Sprache übersetzte Bibel in einen Festgottesdienst hinein. Eine Kiste voll mit frisch gedruckten 2000-seitigen Yali-Bibeln, eine andere mit einer reich bebilderten, 250-seitigen Yali-Kinderbibel.
Mir wird ein meterlanges brennendes Bambusrohr in die Hand gedrückt. Gemeinsam mit meinem Übersetzungsteam entzünden wir damit eine riesige Fackel. „Hu-wai je-hu – Gottes gute Botschaft geht auf wie die Sonne“, singt die Gemeinde. Mit einer mehr als dreistündigen Veranstaltung feiern sie, dass sie nun die ganze Bibel in ihrer Sprache lesen können.
Immer wieder tritt jemand aus den Reihen der Gemeinde nach vorn. Einer betet im Wechsel mit der Gemeinde einen Psalm. Ein Chor nach dem anderen tritt auf. Viele haben für diesen Tag ein Lied gedichtet. Alle bringen zum Ausdruck: Gottes Botschaft ist uns nicht fremd – oder in ihrer Sprache: „Die Allah Wene hat unsere Herzen gegessen!“
Als ich gemeinsam mit dem Übersetzungsteam eine Bibel erhebe, um sie der Gemeinde zu überreichen, wogt eine Gruppe von Tänzern heran. Das Klirren ihrer Pfeilbündel und ihre Freudenschreie vermischen sich mit dem Gesang der Gemeinde: „Was dem Bauern der Grabstock und dem Jäger Pfeil und Bogen, das ist uns die Allah Wene!“
1991 hatten mich einige führende Yalis gebeten, mit ihnen das Alte Testament zu übersetzen. Die Bibel ist für sie wie ein Spiegel ihres eigenen Lebens mit all ihren Fragen, ihrem Kampf ums Überleben, ihrer Sehnsucht nach heilem Leben. „Das kneift uns in unserem Bauch, wenn wir es lesen“, sagten sie und ließen nicht locker, bis wir uns zu den ersten Übersetzungsübungen zusammensetzten. Ein Abenteuer. Denn ein Verb hat bis zu 1000 verschiedene Verbformen und wörtliche Übersetzungen klingen zunächst wie reines Kauderwelsch. Vor allem aber gibt es keine abstrakten Begriffe, kein Wort zum Beispiel für Liebe, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit.
Also lernte ich von ihnen, dass man in ihrer Sprache nicht trauert – viel zu abstrakt –, sondern „es gärt im Bauch“. Man erteilt keinen Auftrag, sondern „man drückt jemanden den Grabstock in die Hand und sagt ihm, er solle den Garten gut bestellen“. Diese Sprache nötigt dazu, konkret und anschaulich zu sprechen. Da man viele Dinge, von denen in der Bibel die Rede ist, im Hochland von Papua nicht kennt, wird etwa der junge Wein, den man auf keinen Fall in alte Schläuche füllen soll (Markus 2,22) zum „frischen Wasser“, das man nicht „in brüchigen Bambusrohren“ aufbewahren soll.
Übersetzungen in die Yali-Sprache können nur in tage- und nächtelangen Palaverrunden entstehen und müssen noch auf Präzision und Treue zu den biblischen Ursprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch wie auf Verständlichkeit für die Hörer geprüft werden. Wenn ein Buch der Bibel übersetzt war, kamen manche Yalis über tagelange Märsche durch die Bergwälder, um sich Vorabdrucke zu erbitten. Ich stand oft nächtelang, um mit einer Matritzenmaschine Tausende Seiten abzuziehen, die ich zu Büchlein band.
In Predigten, Bibelarbeiten und Nacherzählungen der Texte hörten wir dann, wie weit sie verstanden wurden, ob andere Begriffe genommen wurden, als wir gewählt hatten. Das trug zur Qualität der Übersetzung bei. Und: Dieses Buch wurde von Anfang an ihr eigenes. Während der Übersetzungsarbeiten hatten meine Yali-Kollegen immer wieder ausgerufen: „Das kennen wir aus den Erzählungen unserer Väter und Mütter.“ Sie entdeckten Berührungspunkte zwischen dem biblischen Stoff und ihren mündlich überlieferten Traditionen. In den 200 über die Berge und Täler verstreuten Yali-Gemeinden fingen Männer und Frauen an, Lieder in ihrer eigenen Sprache zu dichten. Ein umfangreiches Yali-Kirchengesangbuch wurde neben der Bibel zum beliebtesten Buch.
Nicht zuletzt ist der Wunsch, die Bibel lesen zu können, ein starkes Motiv zur Teilnahme an Alphabetisierungskursen. Nachdem sich zu Beginn der 2000er Jahre die Grundschulversorgung dramatisch verschlechterte, besuchen Tausende die kirchlichen Lesekurse. Da sie in ihrer eigenen Sprache lesen lernen, können sie oft schon nach zwei Monaten die ersten Texte lesen.
Die ersten Versuche der Übersetzung der Bibel in die Yali-Sprache begannen bereits in den 60er Jahren. Das Neue Testament erschien 1988 im Druck. 1998 hatte ich mit insgesamt etwa einem Dutzend einheimischer Kollegen etwa die Hälfte aller alttestamentlichen Texte übersetzt. Wir ließen sie gemeinsam mit dem Neuen Testament drucken. Auf Drängen der Yali-Gemeinden erfolgte ab 2010 die Vervollständigung der Übersetzung. Sie wurde in diesem Jahr als die fünfte Komplettbibel unter den vielen Sprachen Papuas in einer Auflage von 14 400 Exemplaren gedruckt. Gleichzeit erschien die Yali-Kinderbibel. Finanziert wurden die Drucke durch die Protestantische Kirche in Papua, die Weltbibelhilfe, die Indonesische Bibelgesellschaft, das Evangelische Bibelwerk im Rheinland, die von Cansteinsche Bibelanstalt in Westfalen, den Kirchenkreis Schwelm und Lokalregierungen in Papua.
Mit lautem „wah, wah, wah“ bedankten sich die Yali-Gemeinden für die Bibel, die sie auch gerne ihre geistliche Speise nennen, in ihrer Sprache „Gottes Süßkartoffel“. „Wie Jesus die Süßkartoffel brach, um sie mit seinen Jüngern zu teilen, so wollen auch wir mit unseren Geschwistern in Afrika und Europa teilen“, sagten sie und überreichten uns am Ende des Festgottesdienstes einen dicken Umschlag mit 2000 Euro für die Vereinte Evangelische Mission. Wir dankten mit einem lauten „wah, wah, wah“, überwältigt davon zu erleben, dass die Allah Wene auf ein fruchtbares Stück Land gefallen ist.
Friedrich Tometten ist Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen und von der Vereinten Evangelischen Mission nach Papua entsandt. Von 1988 bis 1997 hat er mit Familie dort gelebt und gearbeitet. Seit 2008 ist er zu regelmäßigen mehrwöchigen Aufenthalten in Papua in der theologischen Ausbildung tätig.