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Wenn die gemeinsame Weihnachtsfeier zum Graus wird

Wenn der Krieg in der Familie Wurzeln geschlagen hat, können gemeinsame Feste ein Graus sein. Eine Familientherapeutin zeigt Wege auf, wie ein gemeinsames Weihnachtsfest wohliger werden kann.

Der Countdown für Heiligabend läuft, bei Kindern wächst die Vorfreude, bei vielen Erwachsenen der Stresspegel – vor allem, wenn es Richtung Familienfeier geht. Da, wo sich Menschen verschiedener Generationen zusammenfinden, weil man das schon immer so gemacht hat. Obwohl viele fürchten, dass Streit aufflammt um Nichtigkeiten. Oder dass man sich hohl und leer fühlt, ohne sagen zu können warum, oder was genau gefehlt hat.

Wem es ähnlich ergeht, gehört vielleicht zur “Generation Kriegsenkel”. Als Kriegskinder gelten die Menschen der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1945; ihre Kinder, die Kriegsenkel, sind die bis Mitte der 70er-Jahre Geborenen. Also Menschen, in deren Familien vor Jahrzehnten Kriegserfahrungen Wurzeln geschlagen haben und die damit groß geworden sind, dass Gefühle und Bedürfnisse von den Eltern lapidar weggekehrt wurden.

“Du weißt gar nicht, wie gut du es hast” oder “Jetzt stell dich nicht so an”: So klangen die Reaktionen von Eltern, die es selbst nicht besser konnten, weil sie als Kinder Grausamkeiten erlebt hatten, mit dem Überleben beschäftigt waren oder nach dem Johanna-Haarer-Prinzip erzogen wurden, der Erziehungs-Päpstin der NS-Zeit. Die Ärztin predigte in ihrem Buch “Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” Härte gegen Säuglinge und Kinder – und verurteilte emotionale Nähe als “Affenliebe”. Ihr Erziehungsratgeber wurde im Westen Deutschlands bis in die 80er-Jahre unter anderem Titel weiterverkauft.

Die weitergegebene emotionale Leere sitzt an den Feiertagen unsichtbar mit an vielen Festtagstafeln. Man isst, lacht, tauscht Unverfängliches aus. Vermieden werden direkte Fragen und alles, was mit Emotionen verbunden ist.

Die Kölner Familientherapeutin Dorothe Eisenstecken fasst die Situation so zusammen: “Alles muss schön sein. Das Schweigen und Nicht-in-den-Austausch-gehen bedeutet auch, dass alles ‘Negative’ ausgeblendet wird – werden muss.” Ein fragiler Frieden, eine trügerische Harmonie. Denn ein Blick, ein Halbsatz, eine Frage kann wie ein Funke die Nadeln des trockenen Weihnachtsbaums lichterloh aufflammen lassen.

Wenn sich negative Gefühle Bahn brechen, reichen scheinbare Nichtigkeiten, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, weiß Eisenstecken. “Sie können im schlimmsten Fall zum Kontaktabbruch führen, weil man sich nicht gesehen beziehungsweise gehört fühlt, weil man nicht man selbst sein darf, Teile von sich abspalten muss. Das macht Besuche bei der Familie anstrengend und ermüdend.” Gefühle zu unterdrücken, kostet Kraft – manchmal schon im Vorfeld. “Migräne zum Beispiel ist so ein körperliches Symptom, das vor, während oder nach dem Besuch bei der Familie aufflammt”, sagt die Therapeutin, die sich viel mit der Thematik Kriegsenkel befasst.

Gibt es ein Rezept für betroffene Familien, damit sie auf emotional wärmende Weihnachten hoffen können? Eine Zutat wäre, dass Bedürfnisse klar geäußert werden, sagt Eisenstecken – und räumt ein, dass das schwierig sei. “Oft kennen sowohl Kriegskinder als auch Kriegsenkel ihre Wünsche und Bedürfnisse gar nicht, da sie diese ein Leben lang zurückgestellt und in erster Linie die Erwartungen anderer erfüllt haben. Deshalb können sie die nicht klar benennen oder formulieren, was ihnen guttun oder sie entlasten würde.”

Selbst wenn sie beispielsweise sagen würden: “Ich wünsche mir, dass wir dieses Jahr Heiligabend bei uns feiern”, heiße das noch nicht, dass sich das Gegenüber darauf einlässt und von Familientraditionen abweicht, warnt Eisenstecken: “Veränderungen sorgen für Verunsicherung. Und für Stress, der nicht reguliert werden kann.” Sie rät daher, in den Austausch zu gehen und auszuhandeln, “welche Tradition fortgeführt werden soll, welche vielleicht überholt ist oder nicht mehr passt. Gibt es vielleicht einen Mittelweg, einen Kompromiss? Ist eine Tradition der gemeinsam entwickelte Konsens aller, ist sie verbindend und lebendig?”

Theoretisch also lassen sich Muster und Mechanismen, die die Stimmung unterm Weihnachtsbaum vergiften, durchbrechen. Funktioniert das auch praktisch? Die Therapeutin wägt ab: “Nur, wenn wirklich alle bereit sind, einander zuzuhören, hinzusehen und auch auszuhalten, dass es um tiefere Konflikte geht, auch um gemeinsame, schmerzhafte Erfahrungen in der Vergangenheit.” Wenn sich alle unterm Baum wahrgenommen fühlen, niemand Gefühle und Bedürfnisse unterdrückt, dann könnten nicht nur die Lichter am Weihnachtsbaum wärmen, sondern auch die Begegnungen. Vielleicht noch nicht an diesem Weihnachten, aber möglicherweise am nächsten.