Einen “therapeutisierten” Lebensstil sehen manche mit Skepsis; aus Sicht anderer kann es nicht zu viele Erfahrungsberichte über psychische Gesundheit geben. Politische Mahnungen bleiben.
Meditation, Yoga und Achtsamkeit: Diese Techniken boomen – und viele Menschen erleben sie als hilfreich angesichts zahlreicher Krisen. Auch wächst seit der Corona-Pandemie die Sensibilität für psychische Belastungen – sicher nicht zuletzt, weil sich Prominente zu eigenen entsprechenden Erfahrungen geäußert haben. Dies sei “ein guter Weg”, der etwas verändern könnte, sagt Katty Salie. Ihr Buch “Das andere Gesicht” bietet einen Überblick zu verschiedenen Facetten von Depressionen.
Aus Sicht der Autorin, die selbst depressiv erkrankt war, kann es nicht zu viel Auseinandersetzung mit diesen Themen geben: “Je mehr Menschen offen darüber gesprochen haben, desto mehr hat es mir geholfen, als ich selbst im Loch steckte.” Der Kabarettist Torsten Sträter, ebenfalls betroffen, sagt in Salies Buch: “Wir brauchen eigentlich eine ganze Bibliothek voll mit solchen Geschichten” – neben medizinischer Aufklärung.
Sich weniger allein zu fühlen, auf ein Problem aufmerksam zu werden und erste Orientierung zu finden, ist viel wert. Salie betont aber ebenso, dass Selbsthilfeliteratur oder verstärkte Aufklärung auf Social Media ihre Grenzen haben: “Ob jemand beispielsweise trauert oder Anzeichen einer Depression hat, können nur Fachleute entscheiden”, sagt sie im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Lange Wartezeiten auf Therapieplätze stoßen schon lange auf Kritik; bei manchen Störungen wie etwa ADHS oder Autismus gehen Fachleute zudem von einer hohen Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Fällen aus. Darüber hinaus wird eine grundsätzliche Kritik immer häufiger formuliert: “Auf Schritt und Tritt erhalten wir Ratschläge, wie wir als Individuen ‘resilienter’ werden können”, sagt etwa der norwegische Krisenforscher Arnstein Aassve. Dies könne jedoch dazu führen, dass notwendige politische Reformen aufgeschoben würden.
Individuelle Widerstandsfähigkeit in Krisen sei “sicher nützlich”, so der Experte. “Aber Resilienz ist nicht die Aufgabe des Einzelnen, sondern in erster Linie der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen.” Sie müssten gestärkt werden, um Schocks besser auffangen zu können – und um für künftige Krisen gewappnet zu sein.
Der Historiker Jens Elberfeld beschreibt, dass derzeit viele Menschen versuchten, “mit dem Wahnsinn, der um einen herum passiert, irgendwie klarzukommen, anstatt etwas gegen den Wahnsinn zu unternehmen”. Dabei gebe es durchaus “strukturelle Probleme, so dass manches in eine vollkommen falsche Richtung läuft”, sagte er kürzlich der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Beispielhaft nannte Elberfeld die Verdichtung von Arbeit. “Solche Probleme geraten aus dem Blick, wenn man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist.”
Er beobachte eine Art “therapeutisierten Lebensstil”, führte der Historiker aus: “Die Leute lesen Bücher, befassen sich online mit dem Thema, dann merken sie, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht haben, gehen zum Coaching und vielleicht auch noch zur Therapie.” Dies könne positive Effekte haben – problematisch werde es, wenn dies vor allem geschehen solle, “damit ich dann letztlich einfach weiter funktioniere”.
Aus historischer Sicht sei es ein eher neues Phänomen, dass sich “prominente und semiprominente Menschen” öffentlich zu ihren psychischen Erkrankungen äußerten: “Es ist fast schon ein Genre geworden, dass Leute über ihren Leidensweg und ihre Heilung Autobiografien schreiben.” Die Hemmschwellen im Alltag blieben indes riesig; die Befürchtung, angesichts psychischer Erkrankungen weniger ernstgenommen zu werden oder etwa später keine Verbeamtung zu erhalten, sei noch immer verbreitet.