Im Januar ist die zweite Stufe des Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) in Kraft getreten. Die wichtigsten Neuerungen aber werden erst zum 1. Januar 2017 greifen. Dann gibt es ein neues Begutachtungssystem. Die bisherigen drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Sebastian Wirth erklärt im Gespräch mit Christian Carls, welche Änderungen Menschen zu erwarten haben, die zuhause gepflegt werden – und auf was Betroffene und Angehörige schon jetzt achten können. Er ist Vorsitzender des Evangelischen Fachverbands Ambulante Pflege der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und Geschäftsführer eines Diakonischen Pflegeanbieters im Bergischen Kreis.
• Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat versprochen, dass durch die Pflegereform niemand schlechtergestellt wird. Wird das so sein?
Das stimmt nur zum Teil. Richtig ist, dass alle, bei denen bis zum 31. Dezember ein Pflegebedarf anerkannt wurde, zum Teil deutlich höhere Leistungen erhalten werden. Das passiert schon dadurch, dass sie nach einem Automatismus in höhere Pflegegrade übergeleitet werden.
Menschen, die nach dem 1. Januar 2017 erstmals eingestuft werden, werden demgegenüber nach unseren Erwartungen im Vergleich zum Teil weniger erhalten.
• Was ist der Grund?
Die Politik will, dass der Fokus bei Neueinstufungen ab 2017 stärker auf die Alltagskompetenz gerichtet wird. Wie das in der Praxis aussieht, müssen wir abwarten. Das Einstufungsverfahren wird zurzeit ja noch getestet.
Menschen mit Demenz werden mit Sicherheit deutlich höhere Leistungen als bislang erhalten, da das bisherige System zu stark auf körperliche Beeinträchtigungen fixiert war. Andere, die erstmals eingestuft werden, könnten dagegen im Vergleich zu heute geringere Leistungen bekommen. Das gilt in besonderer Weise für Menschen, die starke körperliche Einschränkungen haben, geistig aber nicht eingeschränkt sind.
• Sollten Menschen, bei denen ein Pflegebedarf vorliegen könnte, also darauf achten, möglichst noch in diesem Jahr eine Begutachtung durchführen zu lassen?
Pflege ist ja in der Regel kein plötzliches Ereignis. In den meisten Fällen rutschen Menschen allmählich in die Pflegebedürftigkeit, das ist ein laufender Prozess. Irgendwann stellt man einen Antrag auf Pflege mit der Auswirkung, dass Pflegegeld ausgezahlt wird. Ich rate allen, bei denen jetzt schon ein Pflegebedarf oder eine eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegen könnte, sich unbedingt noch in diesem Jahr einstufen zu lassen. Ein Antrag ist einfach und formlos bei der Pflegeversicherung zu stellen.
• Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege und Tagespflege sollen pflegende Angehörige entlasten. Sie werden bislang aber oft nicht oder nicht vollständig genutzt. Warum nicht?
Pflegende Angehörige können sich ohne Einbußen im Pflegegeld bis zu sechs Wochen im Jahr durch einen ambulanten Pflegedienst entlasten lassen, Kurzzeitpflege kann bis zu acht Wochen in Anspruch genommen werden.
Aber jetzt, am Anfang des Jahres, werden diese Angebote kaum nachgefragt. Viele Betroffene wollen sich die Möglichkeit, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege ohne Einbußen in Anspruch zu nehmen, aufsparen. Gegen Ende des Jahres stehen dann häufig mehr Mittel zur Verfügung, die nicht mehr benötigt werden.
• Angehörige klagen, dass die Leistungen aus der Pflegeversicherung zu intransparent sind.
Das stimmt. Hohe Barrieren liegen schon in der komplizierten Beantragung. Die Kassen gehen damit auch unterschiedlich um. Bei einigen Kassen reicht ein Anruf, andere schicken komplizierte Formulare.
Und die Verrechnungsmöglichkeiten sind zu kompliziert. Verhinderungspflege lässt sich komplett für Kurzzeitpflege umwidmen, andersrum die Leistungen für Kurzzeitpflege aber nur zur Hälfte. Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege verfallen zum Jahresende, Budgets für Entlastungsleistungen können über den Jahreswechsel mitgenommen werden.
Das ist zu kompliziert. Viele Ansprüche verfallen und gehen zurück in die Rücklagen der Pflegekassen.
• Was wäre einfacher?
Sinnvoll wäre aus meiner Sicht ein Zusatzbudget für alle Leistungen, die nach Zeit abgerechnet werden. Sie ergänzen die sogenannten Sachleistungen in der Pflege, wo der tatsächliche Zeitaufwand nicht berücksichtigt wird, sondern die Leistung – zum Beispiel die Ganzkörperwäsche.