Jeden Tag neue Bilder: von Menschen auf der Flucht, von helfenden Händen, von der ersehnten Ankunft an einem sicheren Ort. Erst die Bilder, so scheint es, führen uns die Lage der vielen Männer, Frauen und Kinder aus den Krisengebieten, die eine Heimat in Europa suchen, in aller Deutlichkeit vor Augen. Ob ohne die Fotos die Hilfsbereitschaft so groß wäre wie sie ist? Wohl nicht.
„Worte sind der Geist eines Magazins, Bilder sind seine Seele“, sagte Wolfgang Behnken, langjähriger Fotograf und Artdirektor des „Stern“, jetzt in einem Interview mit dem „Spiegel“. Bilder wie das von der neunjährigen Vietnamesin Kim Phuc, die nackt und gezeichnet von Brandwunden den Napalmbomben entflieht, und wie das von Willy Brandts Kniefall in Warschau. Oder eben wie das von dem dreijährigen toten syrischen Flüchtlingskind Aylan Kurdi am Strand von Bodrum, das aktuell für so viele Diskussionen sorgt.
Etliche Redaktionen haben sich entschieden, das Bild nicht zu veröffentlichen. Umgekehrt, sahen sich andere geradezu in der Pflicht, ihren Leserinnen und Lesern dieses Dokument zu präsentieren, weil es eine ganze Geschichte erzählt: eine Geschichte von Elend, Leid und Tragik einer Flucht über das Mittelmeer.
Jeden Tag neu stehen seriöse Fotografen, Agenturen und Redaktionen vor der Aufgabe zu entscheiden, wo die Grenzen liegen zwischen ernst zu nehmendem Fotojournalismus und Sensationslust, zu entscheiden, welche Bilder sie ihren Lesern zumuten, weil sie der Aufklärung dienen, oder welche sie besser an ihrem Speicherort belassen, weil sie nichts beitragen zur Information oder weil sie die Würde des/der Fotografierten verletzen.
Bilder können zum Guten wirken und zum Bösen. Das beweist die Geschichte. Schon die Reformation kam nicht ohne sie aus. Sie können, wie der Fotograf James Nachtwey einmal sagte, die ganze Welt aufrütteln, oder sie können zu schlimmster Propaganda missbraucht werden.
Bilder haben Macht. Es ist eine Frage der Vernunft und der beruflichen Professionalität, wie Medienmacher im Einzelfall mit ihnen umgehen. Aber es ist sicher ebenso eine Frage des Gefühls und der Sensibilität – nicht nur gegenüber dem Gegenstand des Fotos, sondern auch gegenüber der Stimmungslage der Gesellschaft, die mit einem solchen Bild konfrontiert wird. Ein Rezept gibt es nicht.
Trotz aller Bedenken: Die Veröffentlichung des Fotos von Aylan Kurdi war richtig. Denn sie war ein Weckruf an viele Menschen, auch an politisch Verantwortliche, dem Elend nicht weiter tatenlos zuzusehen. Gleichzeitig war sie Anlass für eine immer mal wieder notwendige medienethische Debatte.
Und schließlich: Es war doch nicht das Bild, das die Würde des Jungen verletzt hat, es waren der unmenschliche Krieg in seiner Heimat und die Bedingungen der Flucht, die dem kleinen Aylan die Würde geraubt haben. Das Foto selbst hätte kaum sensibler ausfallen können.
Jetzt ist es zu einem Mahnmal geworden. Hoffentlich zeigt es Wirkung zum Guten.