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Vor 80 Jahren endete die Belagerung von Leningrad

Sankt Petersburg erinnert in den nächsten Tagen an das Grauen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Damals hieß die Stadt Leningrad. Heute schwört das Putin-Regime die Menschen darauf ein, neue Opfer zu bringen.

Welches Schicksal Adolf Hitler Leningrad, der “Wiege des Bolschewismus”, im Zweiten Weltkrieg zudachte, daran ließ er nicht den Hauch eines Zweifels. Der “Führer” sei entschlossen, die Stadt “vom Erdboden verschwinden zu lassen”, heißt es in einem Schreiben der deutschen Seekriegsleitung vom September 1941. Auch das mit den Deutschen verbündete Finnland habe kein Interesse an der weiteren Existenz der Metropole. “Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann und soll.”

Etwa zur gleichen Zeit hatten die Deutschen und die Finnen ihren Belagerungsring um Leningrad weitgehend geschlossen. Die rund 2,5 Millionen Einwohner Leningrads sollten an Hunger und Erschöpfung sterben, wenn sie nicht schon vorher aufgrund von Bombardements aus der Luft oder Artilleriebeschuss umkamen. Erst am 27. Januar 1944, vor 80 Jahren, gelang es der sowjetischen Armee in ihrem sechsten Versuch, die Blockade endgültig zu brechen. Was sich in den dazwischen liegenden rund 900 Tagen innerhalb ihrer Mauern abspielte, prägt die Stadt bis heute – auch wenn die schätzungsweise 50.000 noch lebenden “blokadniki”, die Blockademenschen, inzwischen das Greisenalter erreicht haben.

Mit deutscher Gründlichkeit gingen die Belagerer zu Werke. Nach Berechnungen des Ernährungswissenschaftlers Wilhelm Ziegelmayer war es nur eine Frage der Zeit, bis der Mangel an Lebensmitteln die Leningrader dahingerafft haben würde. Dass trotzdem Bürger der Stadt überlebten, stellte Ziegelmayer noch nach 1945 vor Rätsel. “Ich bin schließlich ein alter Ernährungsexperte.” Nicht gerechnet hatte der zynische Fachmann offenbar mit dem Durchhaltewillen und dem Erfindungsreichtum der Betroffenen.

Da wurde die Vitaminmangelkrankheit Skorbut mit Kiefernadelextrakt bekämpft; die Menschen verzehrten Hanfkörner aus Vogelfutter, “dazu Kanarienvögel, Drosseln und Papageien”, schreiben Ales Adamowitsch und Daniil Granin in ihrem “Blockadebuch”. “Man kratze Mehlkleister von den Tapeten, gewann ihn aus Bucheinbänden, kochte Treibriemen aus, aß Katzen, Hunde, Krähen, alle möglichen technischen Öle, Leinölfirnis, Medikamente, Gewürze, Vaseline und Pflanzenreste.”

Gleichwohl schlug der Hunger erbarmungslos zu, besonders im “Todeswinter” 1941/42. “Zuerst starben die Männer, weil sie muskulös sind und weniger Fett haben”, erinnerte sich später eine Ärztin. Die Menschen mutierten zu Greisen. Ausgemergelte Gestalten brachen lautlos auf den vereisten Straßen zusammen oder wachten in ihren zerschossenen Wohnungen, durch deren leere Fensterhöhlen der Wind pfiff, nicht mehr wieder auf.

“Die Temperaturen sanken teilweise auf minus 40 Grad”, sagt die aus Sankt Petersburg stammende Historikerin Katja Makhotina. Strom und Brennstoff wurden knapp, auf Schlitten transportierte man die Leichen zum Friedhof, riss Holzhäuser ab, um sie zu verfeuern. Der Frost bot einigen Einwohnern allerdings auch einen Ausweg aus der belagerten Stadt. Über den zugefrorenen Ladogasee konnten die Sowjets, freilich unter ständigem Beschuss der Deutschen, auf der “Straße des Lebens” Menschen heraus- und Lebensmittel nach Leningrad hineinbringen. Selbst Eisenbahngleise wurden über das gefrorene Gewässer verlegt.

Dennoch fielen mindestens 800.000 Leningrader der Blockade zum Opfer. In Deutschland verhinderte nicht zuletzt die Erinnerung an die “Schlacht von Stalingrad” lange Zeit eine echte Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wehrmacht im Rahmen des von Deutschland begonnenen Eroberungs- und Vernichtungskrieges im Osten Europas. Nach einem der verantwortlichen Befehlshaber, Wilhelm Ritter von Leeb, benannte die Bundeswehr 1965 eine Kaserne, die 1992 aufgegeben wurde. Erst 2008 zahlte die deutsche Seite Entschädigungen – allerdings nur für die jüdischen Überlebenden der Blockade.

Russlands Präsident Wladimir Putin nutzt das Ereignis inzwischen, um die Bevölkerung auf harte Zeiten vorzubereiten, wie Historikerin Makhotina sagt. Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges stehe weniger die heroische Verteidigung der Stadt im Vordergrund. Stattdessen werde Russland als Opfer fremder Mächte präsentiert, gegen die es sich zu wehren habe. “Das ist Putins letzte politische Trumpfkarte”, sagt Makhotina.