Winston Smith beginnt als einfaches Mitglied der Staatspartei, Dinge zu hinterfragen – doch Folter und Gehirnwäsche machen diese Entwicklung zunichte. Der berühmte Roman von George Orwell scheint aktueller denn je.
Einen dieser Romane hat fast jeder in der Schule gelesen: “1984” von George Orwell oder “Schöne neue Welt” von Aldous Huxley. Beide sind auf ihre eigene Art erschreckend. In Huxleys Szenario haben sich die Menschen in einer kontrollierten Wohlfühl-Stimmung eingerichtet, in der Kunst und individuelle Freiheit abgeschafft wurden, bei Orwell werden sie von einer anonym-totalitären Herrschaft bestimmt. Der literarische Bestseller von 1948 gilt heute manchen als prophetisch.
Der Titel “1984” geht auf einen Zahlendreher zurück. Im Dezember 1948 reicht Orwell das Manuskript beim Verlag ein. Der Schriftsteller malt darin eine noch fern erscheinende Zukunft aus, die jedoch viele Bezüge zu seiner Gegenwart hat, und vertauscht schlicht die letzten beiden Ziffern. Im folgenden Sommer erscheint “1984” – wenige Monate vor Orwells Tod. Der Autor starb am Dienstag vor 75 Jahren, am 21. Januar 1950.
Die Überwachung durch einen anonymen “Big Brother”, der strategische Einsatz von Fehlinformationen, “Neusprech” – die Parallelen zwischen der Dystopie und der heutigen Realität sind erschreckend. “Es passiert gerade. 1984 ist überall”, sagte Orwells Sohn Richard Blair kürzlich dem Magazin der “Süddeutschen Zeitung”. Nach Bekanntwerden des NSA-Überwachungsskandals 2013 stieg der Roman wieder in die Bestseller-Listen ein; 2017 landete er gar auf Platz 1, nachdem die Beraterin von US-Präsident Donald Trump den Begriff “alternative Fakten” geprägt hatte.
Blair erklärte nun, sein Vater, dessen bürgerlicher Name Eric Blair lautete, habe in “1984” geschrieben: “‘Zwei und zwei gleich fünf.’ Das ist Fehlinformation in ihrer einfachsten Form. Wenn man den Leuten etwas lange genug und laut genug erzählt, fangen sie an, es zu glauben”. Der wohl berühmteste Roman seines Vaters sei eine zeitlose Warnung “vor der Welt der Fehlinformationen”.
Die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, sieht ebenfalls Parallelen zwischen Roman und Gegenwart – im heutigen Russland. Der chinesische Dichter Yang Lian sagte im Sommer 2023, die Erinnerung an die Corona-Toten werde in seiner Heimat “gelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis”; die jüngere Geschichte werde umgeschrieben. Auch er bezog sich auf “1984”.
Orwells “Farm der Tiere” (1945) wiederum, eine satirische Abrechnung mit dem Stalinismus, ist heute auch durch den Zeichentrickfilm von 1954 bekannt. Zunächst befreien sich die Tiere aus der Unterdrückung des Farmers Jones, doch nach kurzer Zeit übernehmen die Schweine die Herrschaft und unterdrücken – allen voran das Schwein Napoleon – die anderen Tiere. Den wiedergewählten US-Präsidenten sieht Richard Blair als “Mr. Jones und Napoleon in einer Person”. Und: Die anfänglichen Veränderungen durch die Schweine – “ein kleines bisschen hier und da” – beachte zunächst niemand. Dabei sei das “der Punkt, an dem die Fäulnis einsetzt”.
Orwell selbst politisierte sich ab 1922 im burmesischen Polizeidienst, nachdem er unter anderem in Eton bei Huxley studiert hatte. Er wurde zu einem entschiedenen Gegner des Imperialismus und verarbeitete seine Erfahrungen in mehreren Essays. Ab 1936 kämpfte er aufseiten der Arbeiterpartei P.O.U.M. im Spanischen Bürgerkrieg. Dort erlitt er einen Halsdurchschuss.
Nach der britischen Kriegserklärung an Hitler-Deutschland 1939 meldete Orwell sich als Freiwilliger, wurde wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung jedoch abgelehnt. Er arbeitete eine Zeitlang als Literaturkritiker, gegen Ende des Kriegs als Kriegsberichterstatter. Mit 46 Jahren starb er an einer Lungenblutung, nachdem er jahrelang mit Tuberkulose gekämpft hatte.
“Einfache Wörter, einfache Sätze” sieht Sohn Richard als Erfolgsgeheimnis des Literaten: Auf diese Weise vermittle er komplexe Ideen. Orwells Arbeiten seien zeitlos. Derweil haben andere “1984” angesichts des digitalen Zeitalters bereits als “überholt” bezeichnet – ein wenig polemisch, ein wenig besorgt.