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Vor 50 Jahren starb Ivo Andric – Ein Literat zwischen den Welten

Seine “bosnische Trilogie” machte ihn weltberühmt; sein Leben spiegelt die Brüche des Balkans. Doch bleibt das Erbe von Ivo Andric in der politisch aufgeladenen Region 50 Jahre nach seinem Tod umstritten.

Mehr als vier Jahrhunderte lang stand Bosnien unter der Herrschaft der Osmanen, ehe 1878 das Kaiserreich Österreich-Ungarn übernahm. Es ist dieser Mikrokosmos zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam, Christentum und Judentum, in den 1892 Ivo Andric in eine kroatisch-katholische Handwerkerfamilie hineingeboren wurde. Als Halbwaise wächst er bei Verwandten auf, sein Ziehvater bringt dem Jungen Deutsch bei. Die Grundschule besucht Andric in Visegrad – jener Stadt an der bosnisch-serbischen Grenze, die ihn als Schriftsteller zu seiner “Brücke über die Drina” inspirieren sollte.

Ob Andrics Chroniken überhaupt als “Roman” bezeichnet werden sollten, darüber streiten Literaturexperten bis heute. “Die Brücke über die Drina” etwa protokolliert die Zeitspanne von der türkischen Besatzung bis zum Ersten Weltkrieg – mit einer Unzahl an Helden. Der passive Protagonist ist die Brücke. Auf ihr werden Todesurteile vollstreckt, bekriegen sich Heere und bestreiten Generationen von Kaufleuten, Handwerkern und Religionsgelehrten den Alltag. “Für die epische Kraft, mit der er Themen aufgegriffen und menschliche Schicksale aus der Geschichte seines Landes dargestellt hat” erhält Andric 1961 den Literaturnobelpreis; am 13. März 1975, vor einem halben Jahrhundert, stirbt er.

Ehe er als Schriftsteller in Erscheinung tritt, beginnt seine politische Karriere. Am Gymnasium in Sarajevo tritt Andric der revolutionären Bewegung Mlada Bosna (Junges Bosnien) bei. Dabei lernt er Gavrilo Princip kennen – den Revolutionär, der mit dem Mord am österreichischen Thronfolger 1914 den Großmächten den Anstoß für den Ersten Weltkrieg liefert. Mehrere Monate wird Andric inhaftiert, später begnadigt.

In Belgrad, der Hauptstadt des neu gegründeten Königreichs Jugoslawien, tritt Andric in den diplomatischen Dienst. Es ist die Legung seines ideologischen Grundsteins. “Jugoslawien ging für ihn über alles – und zwar unabhängig davon, ob es ein kommunistisches oder monarchistisches Jugoslawien war”, erzählt Michael Martens. Der Südosteuropa-Korrespondent der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” lieferte mit seinem Buch “Im Brand der Welten” die bisher umfangreichste Andric-Biografie.

Immer höher steigt Andric – zu der Zeit noch weniger Schriftsteller als treuer Staatsdiener – die diplomatische Karriereleiter empor: von Posten in Rom, Madrid, Brüssel, Genf und Paris bis zum stellvertretenden Außenminister. 1939 wird er jugoslawischer Gesandter in Berlin, schüttelt Adolf Hitler die Hand. Kurz darauf hört sein Land auf zu existieren. 1941 wird Serbien zum Militärverwaltungsgebiet.

Andric beendet seine Diplomatenkarriere und kehrt in das von der Wehrmacht besetzte Belgrad heim. Ausgerechnet jetzt beginnt seine kreative Blütezeit: Während um ihn herum der Zweite Weltkrieg wütet, zieht Andric sich in ein Zimmer in Belgrad zurück und befasst sich mit nichts anderem als dem Schreiben, so Martens. “Bei dieser Explosion seines Schaffens kam ihm zugute, dass er zuvor über zwei Jahrzehnte Material für seine Romane gesammelt und die Konzepte alle schon fertig im Kopf hatte.” Am Ende liefert Andric auf weit mehr als tausend Seiten die Werke ab, die ihm Weltruhm verschaffen: Neben “Die Brücke über die Drina” auch “Wesire und Konsuln” und “Das Fräulein”.

Andric war überzeugter Jugoslawe. Trotzdem – oder gerade deshalb: Sein Erbe gilt in Südosteuropa heute als umstritten. Nach der Auflösung des jugoslawischen Königreichs schwor Andric dem Partisanenführer und späteren Despoten Josip Broz Tito die Treue. “Nach 1945 waren Tito und die Kommunisten die einzigen Träger dieser Idee, die einen jugoslawischen Staat tatsächlich verwirklichen konnten”, erklärt Martens. “Für Andric galt: Hauptsache Jugoslawien.”

Vermutlich hätte Andric nicht zu träumen gewagt, dass sein geliebtes Jugoslawien 20 Jahre nach seinem Tod 1975 in Nationalstaaten zerbrechen würde – noch dazu in einem Jahrzehnt langen blutigen Kriegs. Für viele Kroaten ist er heute ein “Verräter”. Bosniaken sehen in ihm einen Muslim-Hasser. Nationalistischen Serben wiederum gilt er als Vorreiter der “großserbischen Idee”, während er in den Augen einiger Slowenen und Kosovaren gar die literarische Vorlage für die Kriegsverbrechen der 1990er lieferte. Kulturvertreter der verschiedenen Balkan-Staaten streiten regelmäßig um die Frage: Wem gehörte der gebürtige Kroate, der in Bosnien aufwuchs und in Serbien lebte, am Ende wirklich?