Man kommt aus der Erschütterung gar nicht mehr heraus. 59 Seiten lang ist der Bericht, den die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte zum mutmaßlichen Missbrauchsfall im evangelischen Kirchenkreis Siegen veröffentlicht hat. Der Fall, der in die 1990er Jahre zurückreicht, hatte im November 2023 zum Rücktritt von Annette Kurschus als westfälischer Präses und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland geführt. Deloitte war beauftragt worden, sowohl die Vorwürfe sexualisierter Gewalt als auch den Umgang damit und die Turbulenzen um den Rücktritt zu untersuchen.
Mutmaßlicher Missbrauchsfall von Siegen: spät reagiert, schlecht kommuniziert
Jetzt liegt die Studie vor. Sie listet Fehler und Versagen auf: unklare Strukturen, späte Reaktionen, mangelhafte Kommunikation. Der Bericht führt geradezu exemplarisch auf, wie sexualisierte Gewalt in der Kirche geschieht und warum Täter über Jahre nahezu unbehelligt weitermachen konnten.
Worum ging es? Die Studie stellt die Ereignisse wie folgt dar.
Ein Kirchenmusiker soll jahrzehntelang Schüler-Lehrer-Verhältnisse gegenüber jungen Orgelschülern ausgenutzt haben, von den späten 1980ern bis zum Jahr 2021/2022. Mehr als 30 Jahre war der Mann als Kreiskantor und Kantor einer Kirchengemeinde in Siegen angestellt. Seit 2019 ist er im Ruhestand. Beim Orgelunterricht, den er privat, aber in kirchlichen Gebäuden gab, soll er sich den Jugendlichen genähert haben.
Die Jugendlichen sahen in dem verheirateten Familienvater einen väterlichen Freund. Er verwickelte sie in Gespräche über erwachende Sexualität und über die „alten Griechen“, bei denen geschlechtlicher Kontakt zwischen Männern normal und Ausdruck von Freundschaft gewesen sei. Viele Jahre später werfen sieben ehemalige Schüler ihrem damaligen Lehrer vor, sexuell übergriffig geworden zu sein. Mittlerweile gibt der Beschuldigte dies in zwei Fällen zu. Die Prüfer halten es aber für wahrscheinlich, dass es weitere Fälle gab. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen vor einem Jahr eingestellt. Begründung: Die mutmaßlichen Taten seien verjährt; ob Betroffene zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Vorfälle minderjährig waren, ließe sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen.
Das Strafrecht ergibt in diesem Fall also keinen Sinn. Wohl aber eine Betrachtung nach Disziplinarrecht, also eine Überprüfung, ob Beteiligte ihre Dienstpflichten verletzt haben. Denn dort gibt es laut Studie jede Menge Fragezeichen.
Orgelunterricht hinter verschlossenen Türen
Hinweise auf mögliches Fehlverhalten des Kirchenmusikers habe es schon früh gegeben. Aber nichts geschah. Warum? Der Küster habe den Kirchenmusiker nackt im Büro gesehen. Die Gemeindepfarrerin stand vor der abgeschlossenen Tür zum Orgelunterricht, die der Musiker schließlich geöffnet habe – auch seine Hose war geöffnet. Auf einer Chorreise habe es klare Anzeichen gegeben, dass er junge Männer mit aufs Zimmer nahm. Der Gemeindepfarrer war sich des Problems offenbar so bewusst, dass er bei Orgelunterricht patrouillierte.
In den Fall verwickelt ist auch Annette Kurschus. Die ehemalige Ratsvorsitzende war enge Freundin der Ehefrau des Beschuldigten, Patin eines der Kinder, Pfarrerin der Nachbar-gemeinde, später Superintendentin des Kirchenkreises. Sie hatte an der besagten Chorreise teilgenommen. Zwei der Betroffenen geben an, Kurschus bereits in den 1990ern von der Übergriffigkeit ihres Lehrers unterrichtet zu haben. Kurschus bestreitet das; ihr sei in all den Jahren zwar die homosexuelle Aktivität des Ehemannes ihrer Freundin bekannt gewesen, nicht aber, dass dies in einem geschützten Schüler-Lehrer-Verhältnis geschehen sein soll.
Annette Kurschus kommt im Bericht nicht gut weg
Die Studie betont, dass hier Aussage gegen Aussage steht. Dennoch kommt die frühere Ratsvorsitzende im Bericht nicht gut weg. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe ab Oktober 2022 habe sie den Fall und ihre Befangenheit nur scheibchenweise kommuniziert. Dies habe zu öffentlichem Druck geführt und letztlich zum Rücktritt.
Fatalen Einfluss habe auch eine falsche Beratung aus ihrem Umfeld gehabt. Der Streit, ob sich Kurschus als Befangene überhaupt in die Aufarbeitung hätte einmischen sollen, führte im Mai 2023 zu einem Konflikt auf oberster Leitungsebene. Unter anderem wurde der Theologische Vizepräsident, Nummer zwei der Landeskirche, der sich für einen transparenten Umgang mit der Öffentlichkeit ausgesprochen hatte, vom Fall abgezogen. Stattdessen beauftragte der Juristische Vizepräsident entgegen geltender Prozesse ein externes Beraterteam unter Leitung eines ehemaligen Präses.
“Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung über Jahrzehnte verletzt”
Wie geht es weiter? Die Landeskirche will den vorgelegten Bericht umfassend prüfen und Konsequenzen daraus ziehen, mögliche Pflichtverstöße Beteiligter, auch auf Kirchenleitungs-Ebene, prüfen und ihre Verfahren zur Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt verändern und verbessern. Für die Superintendentin des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein, Kerstin Grünert, zeigt der Fall, wie wichtig Präventionsarbeit sei.