„Die Frierende“ steht mit Schnee bedeckt in ihren schweren Soldatenmantel gehüllt auf diesem großen, weiten Friedhof – und wer sie betrachtet, muss mit ihr frieren. Mit Händen scheint greifbar, welches Leid auf ihren Schultern liegt.
Die von dem Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien gestaltete Skulptur bildet das einzige figürliche Kunstelement der in Kamminke auf der Insel Usedom (Mecklenburg-Vorpommern). Sie steht am Rande eines Massengrabs, in dem nach dem 12. März 1945 tausende Menschen ihre letzte Ruhe fanden. Niemand weiß, wie viele es sind, und auch die meisten ihrer Namen sind unbekannt. Sie alle aber waren Opfer des Luftangriffs, den amerikanische Bomber vor genau 80 Jahren auf den nahegelegenen Ort Swinemünde flogen, heute Świnoujście.
“Die Frierende” lag 30 Jahre im Vorgarten
„Die Frierende“ steht erst seit 1984 an diesem Platz, wenngleich sie bereits 1954 für den Golm geschaffen wurde. Ihre ersten 30 Jahre lag sie im Vorgarten des Bansiner Künstlers, wie Ingeborg Simon von der Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm in einem Aufsatz beschreibt.
Doch dieser Artikel soll zuerst die Anfänge dieser nun größten Kriegsgräberstätte in MV betrachten. Es geht in die Zeit nach dem Kriegsende, als gerade erst die schwere Aufgabe bewältigt war, die enorm hohe Anzahl der Toten zu begraben: auch, um eine Seuchengefahr abzuwenden. Noch war kein Platz für den Gedanken: Wie sollen die Überlebenden, wie nachfolgende Generationen an die hier begrabenen Menschen erinnert werden? Der Golm – ein Berg auf Usedom vor den Toren Swinemündes. Vor dem Krieg ein Ausflugsziel von Bewohnern und Badegästen des drittgrößten Ostseebades. Gartenlokal. Aussichtsturm. Bahnstation in den Sommermonaten. Zeitzeugenberichte schildern den Ort als Idylle „höchsten Vergnügens“.
Aus dem Golm wird ein Massengrab
Seine Bestimmung wandelt sich seit den 1940ern. Im Krieg werden auf dem Berg erste Gefallene begraben. Nach der Bombardierung kommen die zahllosen Opfer des Angriffs hinzu: Frauen, Kinder und alte Männer der Flüchtlingstrecks und -schiffe aus dem Osten, die das überfüllte Swinemünde noch erreicht hatten, Soldaten aus den Lazaretten der Stadt, Soldaten, die in Richtung Westen zur Front sollten, Kriegsgefangene, Einwohner.
Am Kriegsende ist der Golm ein Massengrab. Eines, von dem zunächst ungeklärt ist, wer für seine Pflege zuständig ist – zumal Swinemünde nun polnisch ist. Eine Zeit der Orientierungslosigkeit: Ingeborg Simon beschreibt, dass der Friedhof mit Brombeersträuchern überwuchert.
Kirche bekommt Verantwortung für Kriegsgräber
Ende der 1940er fragen Menschen auch bei den Pastoren nach den Gräbern ihrer Angehörigen. Im April 1949 überträgt der Kulturoffizier der sowjetischen Militäradministration Oberst Jermolajew der Evangelischen Kirche in Deutschland das Recht und die Aufgabe, deutsche Kriegstote, Soldaten und Zivilpersonen menschenwürdig zu bestatten und ihre Gräber zu pflegen, wie Jörg Mückler und Richard Hinderlich im Buch „Halbe-Bericht“ beschreiben. In Kamminke wird 1950 der ehemalige Swinemünder Johannes Wietstock als Friedhofsgärtner eingesetzt. Und die Landeskirchen setzen Vertrauenspfarrer für Gräberfürsorge ein. „In der Pommerschen Ev. Kirche hatte bis 1953 Pfarrer Johannes Braun aus Kröslin diese Stelle inne. Sein Nachfolger bis 1971 war Superintendent Dr. Herbert Achterberg aus Demmin“, schreibt Ingeborg Simon.
Man vereinbart mit dem Landrat des Kreises Usedom ein gemeinsames Vorgehen bei der Instandsetzung des Friedhofes. Greifswalder Theologie-Studenten fahren in das Zirchower Pfarrhaus, um aufräumen zu helfen. Theologe Dr. Johannes Schwerin erinnert sich: „Die Gräber waren offen, die Skelette mit Boden leicht zugeschüttet. Wir füllten die Gräber bis zum Rand mit Waldboden.“
Das Kreuz sei ein “Symbol des Faschismus”
Kirchenbaurat Franz Schwarz schlägt vor, ein Hochkreuz als Ehrenmal zu bauen. Landrat Wiedemeyer stimmt zu. Zirchower Gemeindeglieder spenden, Schmiedemeister Max Dürkoop aus Korswandt errichtet es Anfang 1954.
Inzwischen jedoch zieht der Landrat in den Westen. Die Genehmigung wird zurückgezogen. Dennoch. Für den Ostermontag ist ein Gottesdienst mit Bischof Karl von Scheven zur Einweihung angesetzt. „Dafür brauchte es eine polizeiliche Genehmigung“, schreibt Simon. Superintendent Brutschke und Pastor Kurt Neumann werden beim Kreisrat vorgeladen, die Beseitigung des Kreuzes als „ein Symbol der Verherrlichung des Faschismus und Militarismus“ verlangt.
Das Kreuz sei gegen die deutsch-polnische Friedensgrenze gerichtet. Der Gottesdienst müsse als eine „faschistische Demonstration“ angesehen werden, hieß es. In den Akten des Pfarramtes Zirchow vermerkt Brutschke im Gesprächsprotokoll den Vorwurf an die Kirche, sie versuche, dem Friedenskampf der Partei der Arbeiterklasse in den Rücken zu fallen. Eine angespannte Situation. Die Einladungen für den Gottesdienst sind verschickt.
In der Nacht vom 14. zum 15. April wird von ‚unbekannten Tätern‘ das 13 Meter hohe Holzkreuz über dem Erdboden abgesägt und unterhalb des Querbalkens noch einmal durchgeschnitten. Schmiedemeister Dürkoop wird von der Polizei angewiesen, die Reste bis Ostersonntag zu beseitigen.
Jugendbegegnungsstätte eröffnet 2005
Künstler Rudolf Leptien schafft 1953 im Auftrag des Landkreises eine Statue, die „noch unter dem Eindruck der endlosen Trecks von Frauen und Müttern entsteht: „Die Frierende“. Aber auch sie lässt die SED-Kreisleitung kalt. Von ihrer Körperhaltung gehe keine positive Aktivität aus. Ihr Gesichtsausdruck sei müde resigniert. „Hatte man übersehen, dass aus dem abgebrochenen Baumstumpf, an dem sie anlehnte, kleine Zweige mit zarten Blättern wuchsen?“, fragt sich Ingeborg Simon. 1970 erhält die Kriegsgräberstätte einen Rundbau aus Beton des Rostocker Bildhauers Wolfgang Eckhardt.